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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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naus des Erbprinzen gezweifelt hat, daß das Protokoll über die
Leichenöffnung (welches allein drei Druckseiten bei Mittelstadt füllt S. 154--
156) mit peinlicher Gewissenhaftigkeit geführt ist, und daß die neun Aerzte
namentlich an dem Aeußern des Kindes, auf welches doch bei einer Ver-
tauschung Aller Blicke zuerst fallen mußten, "nichts besonders wahrgenommen"
haben, außer "daß der Hintere Theil des Kopfes und Halses, sowie die Weichen
stark mit Blut unterloffen waren" -- eine natürliche Erscheinung bei der
Todesursache, welche der folgende Sektionsbefund der Kopfhöhle feststellte: der
Ueberfüllung des Gehirns mit Blut.

Einer solchen Urkunde gegenüber hätte Herr Kolb, ohne seiner Würde
irgend etwas zu vergeben, vor ganz Deutschland ruhig erklären können: ich
habe mich geirrt. Ich und mein Gewährsmann Feuerbach konnten keine
Ahnung haben, daß der verstorbene Erbprinz vor so viel Personen sezirt und
hierüber ein Protokoll aufgenommen worden sei. Ich bin nun überzeugt, daß
dieser Erbprinz auch wirklich in der Fürstengruft zu Pforzheim ruht und werde
mich in Betreff der Herkunft Kaspar Hauser's nach einer andern Familie als
dem edeln Hause der Zähringer umsehen müssen. Aber Herr Kolb war weit
entfernt davon, so zu reden. Er erklärte auch das Sektionsprotokoll für "voll¬
ständig irrelevant". Denn, dedueirte er/') in der "Allg. Ztg." vom 5., 6,, 10.
und 13. Oktober 1812 haben ja die Aerzte des Erbprinzen selbst erklärt, daß
sich der Prinz bis zum 8. Oktober 1812 "der besten Gesundheit" erfreut, sehr
"wohl befunden" habe u. f. w. Und in der Nummer vom 24. Oktober 1812
hat or. Kramer in der "Allg. Ztg." selbst seine Meinung dahin ausgesprochen:
"die Krankheit des Erbgroßherzogs ist nach Ausweis der Sektion eine
Folge der sehr schweren Geburt gewesen." Diese Ansicht des or. Kramer ist
unvereinbar mit den Bulletins. Ein Kind, das schon bei der Geburt solche
Gehirnstörungen erleidet, kann nicht zehn Tage gesund sein und dann erst er¬
kranken und sterben. Der angeblich am 16. Oktober verstorbene Erbprinz muß
daher ein neugeborenes untergeschobenes Kind sein.

Man sieht, diese Folgerung bastrt einzig und allein darauf, daß die Ansicht
des Dr. Kramer von der Todesursache des Prinzen richtig ist. Das ist vom
Standpunkte der damaligen Wissenschaft aus der Fall gewesen. Heutzutage
muß diese Ansicht jedoch als ganz unerhört bezeichnet werden. Glücklicherweise
besitzen wir gerade aus Anlaß des vorliegenden Falles und des wilden Ein¬
falls des Herrn Kolb auf das ihm völlig fremde Gebiet der Medizin ein Gut¬
achten Seiten einer medizinische" Autorität ersten Ranges. Der Director der
Klinik an der Universität Heidelberg, Geh.-Rath Prof. or. N. Friedreich hat



-) "Franks. Ztg." vom 17. Juni 1375.

naus des Erbprinzen gezweifelt hat, daß das Protokoll über die
Leichenöffnung (welches allein drei Druckseiten bei Mittelstadt füllt S. 154—
156) mit peinlicher Gewissenhaftigkeit geführt ist, und daß die neun Aerzte
namentlich an dem Aeußern des Kindes, auf welches doch bei einer Ver-
tauschung Aller Blicke zuerst fallen mußten, „nichts besonders wahrgenommen"
haben, außer „daß der Hintere Theil des Kopfes und Halses, sowie die Weichen
stark mit Blut unterloffen waren" — eine natürliche Erscheinung bei der
Todesursache, welche der folgende Sektionsbefund der Kopfhöhle feststellte: der
Ueberfüllung des Gehirns mit Blut.

Einer solchen Urkunde gegenüber hätte Herr Kolb, ohne seiner Würde
irgend etwas zu vergeben, vor ganz Deutschland ruhig erklären können: ich
habe mich geirrt. Ich und mein Gewährsmann Feuerbach konnten keine
Ahnung haben, daß der verstorbene Erbprinz vor so viel Personen sezirt und
hierüber ein Protokoll aufgenommen worden sei. Ich bin nun überzeugt, daß
dieser Erbprinz auch wirklich in der Fürstengruft zu Pforzheim ruht und werde
mich in Betreff der Herkunft Kaspar Hauser's nach einer andern Familie als
dem edeln Hause der Zähringer umsehen müssen. Aber Herr Kolb war weit
entfernt davon, so zu reden. Er erklärte auch das Sektionsprotokoll für „voll¬
ständig irrelevant". Denn, dedueirte er/') in der „Allg. Ztg." vom 5., 6,, 10.
und 13. Oktober 1812 haben ja die Aerzte des Erbprinzen selbst erklärt, daß
sich der Prinz bis zum 8. Oktober 1812 „der besten Gesundheit" erfreut, sehr
„wohl befunden" habe u. f. w. Und in der Nummer vom 24. Oktober 1812
hat or. Kramer in der „Allg. Ztg." selbst seine Meinung dahin ausgesprochen:
„die Krankheit des Erbgroßherzogs ist nach Ausweis der Sektion eine
Folge der sehr schweren Geburt gewesen." Diese Ansicht des or. Kramer ist
unvereinbar mit den Bulletins. Ein Kind, das schon bei der Geburt solche
Gehirnstörungen erleidet, kann nicht zehn Tage gesund sein und dann erst er¬
kranken und sterben. Der angeblich am 16. Oktober verstorbene Erbprinz muß
daher ein neugeborenes untergeschobenes Kind sein.

Man sieht, diese Folgerung bastrt einzig und allein darauf, daß die Ansicht
des Dr. Kramer von der Todesursache des Prinzen richtig ist. Das ist vom
Standpunkte der damaligen Wissenschaft aus der Fall gewesen. Heutzutage
muß diese Ansicht jedoch als ganz unerhört bezeichnet werden. Glücklicherweise
besitzen wir gerade aus Anlaß des vorliegenden Falles und des wilden Ein¬
falls des Herrn Kolb auf das ihm völlig fremde Gebiet der Medizin ein Gut¬
achten Seiten einer medizinische« Autorität ersten Ranges. Der Director der
Klinik an der Universität Heidelberg, Geh.-Rath Prof. or. N. Friedreich hat



-) „Franks. Ztg." vom 17. Juni 1375.
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[0479] naus des Erbprinzen gezweifelt hat, daß das Protokoll über die Leichenöffnung (welches allein drei Druckseiten bei Mittelstadt füllt S. 154— 156) mit peinlicher Gewissenhaftigkeit geführt ist, und daß die neun Aerzte namentlich an dem Aeußern des Kindes, auf welches doch bei einer Ver- tauschung Aller Blicke zuerst fallen mußten, „nichts besonders wahrgenommen" haben, außer „daß der Hintere Theil des Kopfes und Halses, sowie die Weichen stark mit Blut unterloffen waren" — eine natürliche Erscheinung bei der Todesursache, welche der folgende Sektionsbefund der Kopfhöhle feststellte: der Ueberfüllung des Gehirns mit Blut. Einer solchen Urkunde gegenüber hätte Herr Kolb, ohne seiner Würde irgend etwas zu vergeben, vor ganz Deutschland ruhig erklären können: ich habe mich geirrt. Ich und mein Gewährsmann Feuerbach konnten keine Ahnung haben, daß der verstorbene Erbprinz vor so viel Personen sezirt und hierüber ein Protokoll aufgenommen worden sei. Ich bin nun überzeugt, daß dieser Erbprinz auch wirklich in der Fürstengruft zu Pforzheim ruht und werde mich in Betreff der Herkunft Kaspar Hauser's nach einer andern Familie als dem edeln Hause der Zähringer umsehen müssen. Aber Herr Kolb war weit entfernt davon, so zu reden. Er erklärte auch das Sektionsprotokoll für „voll¬ ständig irrelevant". Denn, dedueirte er/') in der „Allg. Ztg." vom 5., 6,, 10. und 13. Oktober 1812 haben ja die Aerzte des Erbprinzen selbst erklärt, daß sich der Prinz bis zum 8. Oktober 1812 „der besten Gesundheit" erfreut, sehr „wohl befunden" habe u. f. w. Und in der Nummer vom 24. Oktober 1812 hat or. Kramer in der „Allg. Ztg." selbst seine Meinung dahin ausgesprochen: „die Krankheit des Erbgroßherzogs ist nach Ausweis der Sektion eine Folge der sehr schweren Geburt gewesen." Diese Ansicht des or. Kramer ist unvereinbar mit den Bulletins. Ein Kind, das schon bei der Geburt solche Gehirnstörungen erleidet, kann nicht zehn Tage gesund sein und dann erst er¬ kranken und sterben. Der angeblich am 16. Oktober verstorbene Erbprinz muß daher ein neugeborenes untergeschobenes Kind sein. Man sieht, diese Folgerung bastrt einzig und allein darauf, daß die Ansicht des Dr. Kramer von der Todesursache des Prinzen richtig ist. Das ist vom Standpunkte der damaligen Wissenschaft aus der Fall gewesen. Heutzutage muß diese Ansicht jedoch als ganz unerhört bezeichnet werden. Glücklicherweise besitzen wir gerade aus Anlaß des vorliegenden Falles und des wilden Ein¬ falls des Herrn Kolb auf das ihm völlig fremde Gebiet der Medizin ein Gut¬ achten Seiten einer medizinische« Autorität ersten Ranges. Der Director der Klinik an der Universität Heidelberg, Geh.-Rath Prof. or. N. Friedreich hat -) „Franks. Ztg." vom 17. Juni 1375.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/479>, abgerufen am 27.07.2024.