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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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einen Mann von glücklichen Naturanlagen, großer Begabung, von Eigenwillen
und Mißtrauen gegen seine Umgebung erfüllt. Staatsrath Reinhard*) sagt
von ihm: "Er hörte an und dachte im Stillen, er kannte die Menschen und
hatte ein feines und scharfes Auge; wenn er Alles angehört und die geheim¬
sten Gesinnungen durchschaut hatte, handelte er nach eigener Entschließung.
Seine heimlichen Wahrnehmungen wußte er mit Argwohn und Mißtrauen zu
verstellen." Ganz so urtheilt der mit dem Großherzog persönlich nahe bekannte
Geh. Rath Chelius über ihn.**) So sah der angebliche Idiot aus, dem man
ein theures Kind unter den Augen mit einem aus Freiburg oder Heidelberg
bezogenen "todten oder sterbenden" Wechselbalg vertauschen konnte! Selten
wird ein fürstlicher Vater nach dem übereinstimmenden Urtheil der Zeitgenossen
weniger von den Eigenschaften besessen haben, die zur ruhigen Hinnahme der
Ausführung eines so kolossalen Betrugs gehören, als Großherzog Karl.

Dann sind uns im Nothtaufsakt genannt worden die beiden Leibmedizi
Geheimrath Schrickel und Dr. Kramer. "Ein" Arzt sollte ja bisher das Haupt¬
werkzeug des Verbrechens gewesen sein. Welcher von diesen Beiden? Beide?
Es müßten schon beide von der Gräfin Hochberg bestochen gewesen sein. Denn
beide kannten das Kind von den ersten Lebenstagen. Keinem von ihnen konnte
man ein sterbendes Findelkind substituiren. Was sagt nun Herr Kolb? Er
geht über die kitzliche Frage, in wie weit die Aerzte bei dem Verbrechen be¬
theiligt seien-- bei Aufzählung der Umstände, welche den vorliegenden
Fall außergewöhnlich machen, und damit den Identitätsbeweis aufheben,
welchen an sich die Nothtanfsurknnde liefern würde -- hinweg mit der raffinirten
Wendung: "Abgesehen von den Aerzten." Also diese gehören auch mit
zu den "außergewöhnlichen" Umständen des Falles? Sie funktionirten nicht
normal wie sonst ein Arzt. Wir müssen sie mit Mißtrauen betrachten. Das
insinuirt Herr Kolb thatsächlich, wenn er auch ans Furcht vor Strafe nach
8 18g des Reichsstrafgesetzbuches und vielleicht auch aus Furcht vor der
Lächerlichkeit, der er sich durch eine so grobe Verleumdung solcher Männer
in den Augen aller Kenner aussetzen muß, sich scheut, offen mit der Sprache
herauszurücken. Dr. Kramer war der persönliche Leibarzt der Großherzogin.
Er hat sich in einem in der Allgemeinen Zeitung noch im Oktober 1812
veröffentlichten Briefe vom 20. Oktober weitläufig über des Erbprinzen Krank¬
heit und die Ursache seines Todes ausgelassen. Die hier niedergelegten Ansichten
werden von der heutigen medizinischen Wissenschaft kaum ohne Lächeln ent-




*) Bekenntnisse ans Leben und Meinungen. Karlsruhe 1849, Bd. I, S. 212.
**
) "Kölnische Zeitung" 11. August 1375, 3. Blatt. - Mittelstadt S. 92, 93 (dem die
Citate entnommen sind).

einen Mann von glücklichen Naturanlagen, großer Begabung, von Eigenwillen
und Mißtrauen gegen seine Umgebung erfüllt. Staatsrath Reinhard*) sagt
von ihm: „Er hörte an und dachte im Stillen, er kannte die Menschen und
hatte ein feines und scharfes Auge; wenn er Alles angehört und die geheim¬
sten Gesinnungen durchschaut hatte, handelte er nach eigener Entschließung.
Seine heimlichen Wahrnehmungen wußte er mit Argwohn und Mißtrauen zu
verstellen." Ganz so urtheilt der mit dem Großherzog persönlich nahe bekannte
Geh. Rath Chelius über ihn.**) So sah der angebliche Idiot aus, dem man
ein theures Kind unter den Augen mit einem aus Freiburg oder Heidelberg
bezogenen „todten oder sterbenden" Wechselbalg vertauschen konnte! Selten
wird ein fürstlicher Vater nach dem übereinstimmenden Urtheil der Zeitgenossen
weniger von den Eigenschaften besessen haben, die zur ruhigen Hinnahme der
Ausführung eines so kolossalen Betrugs gehören, als Großherzog Karl.

Dann sind uns im Nothtaufsakt genannt worden die beiden Leibmedizi
Geheimrath Schrickel und Dr. Kramer. „Ein" Arzt sollte ja bisher das Haupt¬
werkzeug des Verbrechens gewesen sein. Welcher von diesen Beiden? Beide?
Es müßten schon beide von der Gräfin Hochberg bestochen gewesen sein. Denn
beide kannten das Kind von den ersten Lebenstagen. Keinem von ihnen konnte
man ein sterbendes Findelkind substituiren. Was sagt nun Herr Kolb? Er
geht über die kitzliche Frage, in wie weit die Aerzte bei dem Verbrechen be¬
theiligt seien— bei Aufzählung der Umstände, welche den vorliegenden
Fall außergewöhnlich machen, und damit den Identitätsbeweis aufheben,
welchen an sich die Nothtanfsurknnde liefern würde — hinweg mit der raffinirten
Wendung: „Abgesehen von den Aerzten." Also diese gehören auch mit
zu den „außergewöhnlichen" Umständen des Falles? Sie funktionirten nicht
normal wie sonst ein Arzt. Wir müssen sie mit Mißtrauen betrachten. Das
insinuirt Herr Kolb thatsächlich, wenn er auch ans Furcht vor Strafe nach
8 18g des Reichsstrafgesetzbuches und vielleicht auch aus Furcht vor der
Lächerlichkeit, der er sich durch eine so grobe Verleumdung solcher Männer
in den Augen aller Kenner aussetzen muß, sich scheut, offen mit der Sprache
herauszurücken. Dr. Kramer war der persönliche Leibarzt der Großherzogin.
Er hat sich in einem in der Allgemeinen Zeitung noch im Oktober 1812
veröffentlichten Briefe vom 20. Oktober weitläufig über des Erbprinzen Krank¬
heit und die Ursache seines Todes ausgelassen. Die hier niedergelegten Ansichten
werden von der heutigen medizinischen Wissenschaft kaum ohne Lächeln ent-




*) Bekenntnisse ans Leben und Meinungen. Karlsruhe 1849, Bd. I, S. 212.
**
) „Kölnische Zeitung" 11. August 1375, 3. Blatt. - Mittelstadt S. 92, 93 (dem die
Citate entnommen sind).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/471>, abgerufen am 01.09.2024.