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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Funktionen des wachen Seelenlebens; sie sind nur eine andere modifizirte
Aeußerung desselben. Wir haben die völlige Einheit der menschlichen Seele
fest zu halten. Zweitens: Die Träume unterscheiden sich von den Funktionen
des wachen Seelenlebens durch die während des Schlafes eingetretene Auf¬
hebung des Selbstbewußtseins. Wachen und Schlafen der Seele sind Zustände,
welche durch die feinsten, unmerklichsten Gradationen mit einander kontinuirlich
verbunden, sich einander niemals völlig auslösen, sondern theilweise in einander
hineinragen. Drittens: Das charakteristische Moment des Traumes ist vor¬
wiegend abhängig von den Funktionen des Gemüths; das Gemüth schläft nie
und bildet, alternirend mit dein Selbstbewußtsein, das ununterbrochene, ein¬
heitliche Leben der Seele bis zum Tode, als deren absoluten Schlaf, aus dem
es kein irdisches Erwachen giebt."

Den meisten Lösungen der Probleme des Schlaf- und Traumlebens, die
der Verfasser giebt, stimmen wir bei; aber in einem Punkte müssen wir wider¬
sprechen. Spitta behauptet: das Gemüth schläft nie, ermüdet nie, wacht immer.
Er selbst aber widerlegt dieses Urtheil, wenn er erklärt (S. 148), daß im
Traum eine völlige Abwesenheit des moralischen Bewußtseins eintrete, die
moralische Werthschätzung aufhöre. Das wäre unmöglich, wenn das Gemüth
wachte. Denn die Gefühle, die dasselbe in sich schließt, sind doch zum Theil
wenigstens gewiß moralischer Natur. Der Verfasser hat hier die volle Klarheit
uoch nicht gewonnen. Es zeigt sich dies besonders in den sich aufhebenden
Aeußerungen desselben über das Gewissen. Wenn er den Beweis zu führen
sucht, daß das Gemüth nie schläft, so erklärt er: "Das Gewissen gehört eben ganz
wesentlich zum Gemüth und nicht zum Selbstbewußtsein" (S. 72), und wenn
er erhärten will, daß der Träumende nicht für den Inhalt seiner Träume
moralisch verantwortlich gemacht werden könne, so spricht er sich dahin aus:
"Es leuchtet demnach ein, daß das Gewissen und die ihm gemäße Beurtheilung
aller Lebensverhältnisse, die Stimme des inneren Richters, an das Selbstbe¬
wußtsein gebunden, mit ihm steht und fällt, also während des Schlafes auf¬
gehoben ist." (S. 141). Dieser Tadel hindert uns aber nicht, Spitta's Arbeit
warm zu empfehlen. Wir hoffen, ihn noch öfter auf psychologischem Gebiet
literarisch thätig zu sehen.

Gemischte Empfindungen hat in uus die Schrift Hoffmanns erregt.
Wir hegen aufrichtige Verehrung gegen den unermüdlichen Kämpen für die
Ideen Franz von Baader's, den verdienten Herausgeber seiner Werke. Wir
billigen durchaus, daß er nicht aufhört, auf die reichen Schätze tiefer Er¬
kenntnisse hin zu weisen, welche die Theosophie seines Meisters in sich schließt;
trotzdem haben wir ernste Bedenken, ob die vorliegende Schrift geeignet ist,
die von ihn: in's Auge gefaßten Zwecke zu fördern. Dieselbe enthält fast ans-


Funktionen des wachen Seelenlebens; sie sind nur eine andere modifizirte
Aeußerung desselben. Wir haben die völlige Einheit der menschlichen Seele
fest zu halten. Zweitens: Die Träume unterscheiden sich von den Funktionen
des wachen Seelenlebens durch die während des Schlafes eingetretene Auf¬
hebung des Selbstbewußtseins. Wachen und Schlafen der Seele sind Zustände,
welche durch die feinsten, unmerklichsten Gradationen mit einander kontinuirlich
verbunden, sich einander niemals völlig auslösen, sondern theilweise in einander
hineinragen. Drittens: Das charakteristische Moment des Traumes ist vor¬
wiegend abhängig von den Funktionen des Gemüths; das Gemüth schläft nie
und bildet, alternirend mit dein Selbstbewußtsein, das ununterbrochene, ein¬
heitliche Leben der Seele bis zum Tode, als deren absoluten Schlaf, aus dem
es kein irdisches Erwachen giebt."

Den meisten Lösungen der Probleme des Schlaf- und Traumlebens, die
der Verfasser giebt, stimmen wir bei; aber in einem Punkte müssen wir wider¬
sprechen. Spitta behauptet: das Gemüth schläft nie, ermüdet nie, wacht immer.
Er selbst aber widerlegt dieses Urtheil, wenn er erklärt (S. 148), daß im
Traum eine völlige Abwesenheit des moralischen Bewußtseins eintrete, die
moralische Werthschätzung aufhöre. Das wäre unmöglich, wenn das Gemüth
wachte. Denn die Gefühle, die dasselbe in sich schließt, sind doch zum Theil
wenigstens gewiß moralischer Natur. Der Verfasser hat hier die volle Klarheit
uoch nicht gewonnen. Es zeigt sich dies besonders in den sich aufhebenden
Aeußerungen desselben über das Gewissen. Wenn er den Beweis zu führen
sucht, daß das Gemüth nie schläft, so erklärt er: „Das Gewissen gehört eben ganz
wesentlich zum Gemüth und nicht zum Selbstbewußtsein" (S. 72), und wenn
er erhärten will, daß der Träumende nicht für den Inhalt seiner Träume
moralisch verantwortlich gemacht werden könne, so spricht er sich dahin aus:
„Es leuchtet demnach ein, daß das Gewissen und die ihm gemäße Beurtheilung
aller Lebensverhältnisse, die Stimme des inneren Richters, an das Selbstbe¬
wußtsein gebunden, mit ihm steht und fällt, also während des Schlafes auf¬
gehoben ist." (S. 141). Dieser Tadel hindert uns aber nicht, Spitta's Arbeit
warm zu empfehlen. Wir hoffen, ihn noch öfter auf psychologischem Gebiet
literarisch thätig zu sehen.

Gemischte Empfindungen hat in uus die Schrift Hoffmanns erregt.
Wir hegen aufrichtige Verehrung gegen den unermüdlichen Kämpen für die
Ideen Franz von Baader's, den verdienten Herausgeber seiner Werke. Wir
billigen durchaus, daß er nicht aufhört, auf die reichen Schätze tiefer Er¬
kenntnisse hin zu weisen, welche die Theosophie seines Meisters in sich schließt;
trotzdem haben wir ernste Bedenken, ob die vorliegende Schrift geeignet ist,
die von ihn: in's Auge gefaßten Zwecke zu fördern. Dieselbe enthält fast ans-


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[0400] Funktionen des wachen Seelenlebens; sie sind nur eine andere modifizirte Aeußerung desselben. Wir haben die völlige Einheit der menschlichen Seele fest zu halten. Zweitens: Die Träume unterscheiden sich von den Funktionen des wachen Seelenlebens durch die während des Schlafes eingetretene Auf¬ hebung des Selbstbewußtseins. Wachen und Schlafen der Seele sind Zustände, welche durch die feinsten, unmerklichsten Gradationen mit einander kontinuirlich verbunden, sich einander niemals völlig auslösen, sondern theilweise in einander hineinragen. Drittens: Das charakteristische Moment des Traumes ist vor¬ wiegend abhängig von den Funktionen des Gemüths; das Gemüth schläft nie und bildet, alternirend mit dein Selbstbewußtsein, das ununterbrochene, ein¬ heitliche Leben der Seele bis zum Tode, als deren absoluten Schlaf, aus dem es kein irdisches Erwachen giebt." Den meisten Lösungen der Probleme des Schlaf- und Traumlebens, die der Verfasser giebt, stimmen wir bei; aber in einem Punkte müssen wir wider¬ sprechen. Spitta behauptet: das Gemüth schläft nie, ermüdet nie, wacht immer. Er selbst aber widerlegt dieses Urtheil, wenn er erklärt (S. 148), daß im Traum eine völlige Abwesenheit des moralischen Bewußtseins eintrete, die moralische Werthschätzung aufhöre. Das wäre unmöglich, wenn das Gemüth wachte. Denn die Gefühle, die dasselbe in sich schließt, sind doch zum Theil wenigstens gewiß moralischer Natur. Der Verfasser hat hier die volle Klarheit uoch nicht gewonnen. Es zeigt sich dies besonders in den sich aufhebenden Aeußerungen desselben über das Gewissen. Wenn er den Beweis zu führen sucht, daß das Gemüth nie schläft, so erklärt er: „Das Gewissen gehört eben ganz wesentlich zum Gemüth und nicht zum Selbstbewußtsein" (S. 72), und wenn er erhärten will, daß der Träumende nicht für den Inhalt seiner Träume moralisch verantwortlich gemacht werden könne, so spricht er sich dahin aus: „Es leuchtet demnach ein, daß das Gewissen und die ihm gemäße Beurtheilung aller Lebensverhältnisse, die Stimme des inneren Richters, an das Selbstbe¬ wußtsein gebunden, mit ihm steht und fällt, also während des Schlafes auf¬ gehoben ist." (S. 141). Dieser Tadel hindert uns aber nicht, Spitta's Arbeit warm zu empfehlen. Wir hoffen, ihn noch öfter auf psychologischem Gebiet literarisch thätig zu sehen. Gemischte Empfindungen hat in uus die Schrift Hoffmanns erregt. Wir hegen aufrichtige Verehrung gegen den unermüdlichen Kämpen für die Ideen Franz von Baader's, den verdienten Herausgeber seiner Werke. Wir billigen durchaus, daß er nicht aufhört, auf die reichen Schätze tiefer Er¬ kenntnisse hin zu weisen, welche die Theosophie seines Meisters in sich schließt; trotzdem haben wir ernste Bedenken, ob die vorliegende Schrift geeignet ist, die von ihn: in's Auge gefaßten Zwecke zu fördern. Dieselbe enthält fast ans-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/400>, abgerufen am 27.07.2024.