Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Werthen Essay über Adolphe Thiers*), auf den wir später einmal eingehender
zurückkommen, und der, um über die Zeit seiner Entstehung keinen Zweifel zu
lassen, geschrieben ist nach dem Tode des greisen französischen Staatsmannes,
mithin alle Wandlungen, welche Regierungssystem und Organisation in Frank¬
reich bis Ende 187? erfahren habe könnten, berücksichtigt -- in diesem Essay
weist Karl Hillebrand genau dasselbe nach, was er schon 1873 über Thiers
und Frankreich geschrieben: daß die gesammte französische Staatsordnung, die
Bedeutung der Herrschergewalt, die Mitwirkung der Nation an der Regierung,
Verwaltung, Justiz, Polizei und Finanzwesen u. s. w. in ihren Grund¬
zügen unverändert geblieben ist seit der großen französischen Revolution und
dem Ausbau, den Napoleon I. diesen Verhältnissen gegeben. Es ist daher
auch ein schwerer Irrthum, wenn Nordau die Verfassung und Organisation
des zweiten Kaiserreichs als etwas Besonderes, seither mit der Republik Ver¬
schwundenes ansieht. In diesem ganzen neunzigjährigen Zeitraum ist die Person
des Herrschers, die bald nahezu absoutistische, bald kvnstutitionelle, bald republi¬
kanische Staatsform immer wenig mehr als eine akademische Theorie gewesen.
Das Staatsfundament ist immer die Tradition der Revolution und des ersten Kaiser¬
reichs in den damals ausgeprägten grundlegenden Gesetzen und Formen geblieben.

Hillebrand selbst sagt (S. 171.): "Frankreich ist eben seit einem Jahr¬
hundert eine thatsächliche Republik, d. h. es wird von einem verantwortlichen
Staatsoberhaupt regiert; dies zuerst eingesehen und laut verkündigt zu haben,
lst Napoleons III. großes Verdienst. Er wollte nie wie Karl X. oder Louis
Philipp seine persönliche Regierung hinter verantwortlichen Ministern verstecken,
sondern beanspruchte, wie Thiers nach ihm, die volle Verantwortlichkeit für
sich selber. Niemand, der die Geschichte dieses Jahrhunderts kennt, wird leugnen
sollen, daß sämmtliche Herrscher Frankreichs von dein ersten Consul bis zum
Marschall Mac Mensor persönliche Herrscher gewesen, und daß jeder Minister,
der sie dazu zwingen wollte, die konstitutionelle Fiction des unverantwortlichen
Staatsoberhauptes innezuhalten, hieß dieser Minister nun Martignac oder
Thiers, "Barrot oder Dufaure, Marecre oder Jules Simon, ohne
Weiteres beseitigt wurde. Daß dies, die persönliche Regierung, kein
Zufall, keine Willkür der Herrscher, daß es eine Nothwendigkeit des
französischen Staatswesens ist, wie es aus der Revolution und dem Consulat
hervorgegangen, das sah Thiers erst als sechsundsiebzigjähriger Greis ein,
als man ihn selber zu einem unverantwortlichen konstitutionellen Herrscher mit
einem verantwortlichen Ministerium machen uns aus dem Parlamente ver¬
bannen wollte."



*) Carl Hillebrand, Profile. (Zeiten, Völker und Menschen, 4. Band. S. 107-176).
Berlin, Rob. Oppenheim, 1L78.

Werthen Essay über Adolphe Thiers*), auf den wir später einmal eingehender
zurückkommen, und der, um über die Zeit seiner Entstehung keinen Zweifel zu
lassen, geschrieben ist nach dem Tode des greisen französischen Staatsmannes,
mithin alle Wandlungen, welche Regierungssystem und Organisation in Frank¬
reich bis Ende 187? erfahren habe könnten, berücksichtigt — in diesem Essay
weist Karl Hillebrand genau dasselbe nach, was er schon 1873 über Thiers
und Frankreich geschrieben: daß die gesammte französische Staatsordnung, die
Bedeutung der Herrschergewalt, die Mitwirkung der Nation an der Regierung,
Verwaltung, Justiz, Polizei und Finanzwesen u. s. w. in ihren Grund¬
zügen unverändert geblieben ist seit der großen französischen Revolution und
dem Ausbau, den Napoleon I. diesen Verhältnissen gegeben. Es ist daher
auch ein schwerer Irrthum, wenn Nordau die Verfassung und Organisation
des zweiten Kaiserreichs als etwas Besonderes, seither mit der Republik Ver¬
schwundenes ansieht. In diesem ganzen neunzigjährigen Zeitraum ist die Person
des Herrschers, die bald nahezu absoutistische, bald kvnstutitionelle, bald republi¬
kanische Staatsform immer wenig mehr als eine akademische Theorie gewesen.
Das Staatsfundament ist immer die Tradition der Revolution und des ersten Kaiser¬
reichs in den damals ausgeprägten grundlegenden Gesetzen und Formen geblieben.

Hillebrand selbst sagt (S. 171.): „Frankreich ist eben seit einem Jahr¬
hundert eine thatsächliche Republik, d. h. es wird von einem verantwortlichen
Staatsoberhaupt regiert; dies zuerst eingesehen und laut verkündigt zu haben,
lst Napoleons III. großes Verdienst. Er wollte nie wie Karl X. oder Louis
Philipp seine persönliche Regierung hinter verantwortlichen Ministern verstecken,
sondern beanspruchte, wie Thiers nach ihm, die volle Verantwortlichkeit für
sich selber. Niemand, der die Geschichte dieses Jahrhunderts kennt, wird leugnen
sollen, daß sämmtliche Herrscher Frankreichs von dein ersten Consul bis zum
Marschall Mac Mensor persönliche Herrscher gewesen, und daß jeder Minister,
der sie dazu zwingen wollte, die konstitutionelle Fiction des unverantwortlichen
Staatsoberhauptes innezuhalten, hieß dieser Minister nun Martignac oder
Thiers, „Barrot oder Dufaure, Marecre oder Jules Simon, ohne
Weiteres beseitigt wurde. Daß dies, die persönliche Regierung, kein
Zufall, keine Willkür der Herrscher, daß es eine Nothwendigkeit des
französischen Staatswesens ist, wie es aus der Revolution und dem Consulat
hervorgegangen, das sah Thiers erst als sechsundsiebzigjähriger Greis ein,
als man ihn selber zu einem unverantwortlichen konstitutionellen Herrscher mit
einem verantwortlichen Ministerium machen uns aus dem Parlamente ver¬
bannen wollte."



*) Carl Hillebrand, Profile. (Zeiten, Völker und Menschen, 4. Band. S. 107-176).
Berlin, Rob. Oppenheim, 1L78.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0347" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140168"/>
          <p xml:id="ID_1016" prev="#ID_1015"> Werthen Essay über Adolphe Thiers*), auf den wir später einmal eingehender<lb/>
zurückkommen, und der, um über die Zeit seiner Entstehung keinen Zweifel zu<lb/>
lassen, geschrieben ist nach dem Tode des greisen französischen Staatsmannes,<lb/>
mithin alle Wandlungen, welche Regierungssystem und Organisation in Frank¬<lb/>
reich bis Ende 187? erfahren habe könnten, berücksichtigt &#x2014; in diesem Essay<lb/>
weist Karl Hillebrand genau dasselbe nach, was er schon 1873 über Thiers<lb/>
und Frankreich geschrieben: daß die gesammte französische Staatsordnung, die<lb/>
Bedeutung der Herrschergewalt, die Mitwirkung der Nation an der Regierung,<lb/>
Verwaltung, Justiz, Polizei und Finanzwesen u. s. w. in ihren Grund¬<lb/>
zügen unverändert geblieben ist seit der großen französischen Revolution und<lb/>
dem Ausbau, den Napoleon I. diesen Verhältnissen gegeben. Es ist daher<lb/>
auch ein schwerer Irrthum, wenn Nordau die Verfassung und Organisation<lb/>
des zweiten Kaiserreichs als etwas Besonderes, seither mit der Republik Ver¬<lb/>
schwundenes ansieht. In diesem ganzen neunzigjährigen Zeitraum ist die Person<lb/>
des Herrschers, die bald nahezu absoutistische, bald kvnstutitionelle, bald republi¬<lb/>
kanische Staatsform immer wenig mehr als eine akademische Theorie gewesen.<lb/>
Das Staatsfundament ist immer die Tradition der Revolution und des ersten Kaiser¬<lb/>
reichs in den damals ausgeprägten grundlegenden Gesetzen und Formen geblieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1017"> Hillebrand selbst sagt (S. 171.): &#x201E;Frankreich ist eben seit einem Jahr¬<lb/>
hundert eine thatsächliche Republik, d. h. es wird von einem verantwortlichen<lb/>
Staatsoberhaupt regiert; dies zuerst eingesehen und laut verkündigt zu haben,<lb/>
lst Napoleons III. großes Verdienst. Er wollte nie wie Karl X. oder Louis<lb/>
Philipp seine persönliche Regierung hinter verantwortlichen Ministern verstecken,<lb/>
sondern beanspruchte, wie Thiers nach ihm, die volle Verantwortlichkeit für<lb/>
sich selber. Niemand, der die Geschichte dieses Jahrhunderts kennt, wird leugnen<lb/>
sollen, daß sämmtliche Herrscher Frankreichs von dein ersten Consul bis zum<lb/>
Marschall Mac Mensor persönliche Herrscher gewesen, und daß jeder Minister,<lb/>
der sie dazu zwingen wollte, die konstitutionelle Fiction des unverantwortlichen<lb/>
Staatsoberhauptes innezuhalten, hieß dieser Minister nun Martignac oder<lb/>
Thiers, &#x201E;Barrot oder Dufaure, Marecre oder Jules Simon, ohne<lb/>
Weiteres beseitigt wurde. Daß dies, die persönliche Regierung, kein<lb/>
Zufall, keine Willkür der Herrscher, daß es eine Nothwendigkeit des<lb/>
französischen Staatswesens ist, wie es aus der Revolution und dem Consulat<lb/>
hervorgegangen, das sah Thiers erst als sechsundsiebzigjähriger Greis ein,<lb/>
als man ihn selber zu einem unverantwortlichen konstitutionellen Herrscher mit<lb/>
einem verantwortlichen Ministerium machen uns aus dem Parlamente ver¬<lb/>
bannen wollte."</p><lb/>
          <note xml:id="FID_95" place="foot"> *) Carl Hillebrand, Profile. (Zeiten, Völker und Menschen, 4. Band. S. 107-176).<lb/>
Berlin, Rob. Oppenheim, 1L78.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0347] Werthen Essay über Adolphe Thiers*), auf den wir später einmal eingehender zurückkommen, und der, um über die Zeit seiner Entstehung keinen Zweifel zu lassen, geschrieben ist nach dem Tode des greisen französischen Staatsmannes, mithin alle Wandlungen, welche Regierungssystem und Organisation in Frank¬ reich bis Ende 187? erfahren habe könnten, berücksichtigt — in diesem Essay weist Karl Hillebrand genau dasselbe nach, was er schon 1873 über Thiers und Frankreich geschrieben: daß die gesammte französische Staatsordnung, die Bedeutung der Herrschergewalt, die Mitwirkung der Nation an der Regierung, Verwaltung, Justiz, Polizei und Finanzwesen u. s. w. in ihren Grund¬ zügen unverändert geblieben ist seit der großen französischen Revolution und dem Ausbau, den Napoleon I. diesen Verhältnissen gegeben. Es ist daher auch ein schwerer Irrthum, wenn Nordau die Verfassung und Organisation des zweiten Kaiserreichs als etwas Besonderes, seither mit der Republik Ver¬ schwundenes ansieht. In diesem ganzen neunzigjährigen Zeitraum ist die Person des Herrschers, die bald nahezu absoutistische, bald kvnstutitionelle, bald republi¬ kanische Staatsform immer wenig mehr als eine akademische Theorie gewesen. Das Staatsfundament ist immer die Tradition der Revolution und des ersten Kaiser¬ reichs in den damals ausgeprägten grundlegenden Gesetzen und Formen geblieben. Hillebrand selbst sagt (S. 171.): „Frankreich ist eben seit einem Jahr¬ hundert eine thatsächliche Republik, d. h. es wird von einem verantwortlichen Staatsoberhaupt regiert; dies zuerst eingesehen und laut verkündigt zu haben, lst Napoleons III. großes Verdienst. Er wollte nie wie Karl X. oder Louis Philipp seine persönliche Regierung hinter verantwortlichen Ministern verstecken, sondern beanspruchte, wie Thiers nach ihm, die volle Verantwortlichkeit für sich selber. Niemand, der die Geschichte dieses Jahrhunderts kennt, wird leugnen sollen, daß sämmtliche Herrscher Frankreichs von dein ersten Consul bis zum Marschall Mac Mensor persönliche Herrscher gewesen, und daß jeder Minister, der sie dazu zwingen wollte, die konstitutionelle Fiction des unverantwortlichen Staatsoberhauptes innezuhalten, hieß dieser Minister nun Martignac oder Thiers, „Barrot oder Dufaure, Marecre oder Jules Simon, ohne Weiteres beseitigt wurde. Daß dies, die persönliche Regierung, kein Zufall, keine Willkür der Herrscher, daß es eine Nothwendigkeit des französischen Staatswesens ist, wie es aus der Revolution und dem Consulat hervorgegangen, das sah Thiers erst als sechsundsiebzigjähriger Greis ein, als man ihn selber zu einem unverantwortlichen konstitutionellen Herrscher mit einem verantwortlichen Ministerium machen uns aus dem Parlamente ver¬ bannen wollte." *) Carl Hillebrand, Profile. (Zeiten, Völker und Menschen, 4. Band. S. 107-176). Berlin, Rob. Oppenheim, 1L78.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/347
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/347>, abgerufen am 29.12.2024.