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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Kritik lassen könnten. Wie gelangt er zu der hier allsgesprochenen Wahrneh¬
mung? Er beobachtet richtig, daß der Napoleonstag, den von 1852 bis 1870
ganz Paris mit Jubel feierte, jetzt nur von einem gedrückten Häuflein alter
Kaiserfreunde in aller Stille begangen werde. Er fragt nach den Höflingen,
den Beamten, den Günstlingen, den Hoflieferanten, den Reifröcken des zweiten
Kaiserreichs und findet sie nicht und das genügt ihm, die Frage auszuwerfen:
"wie ist es möglich, daß eine so weit ausgebreitete, so tief wurzelnde Organi¬
sation, wie ein Regierungssystem, das achtzehn Jahre lang eine Nation von
sechsunddreißig Millionen beherrscht hat, plötzlich in sich zusammenstürze und
nichts, gar nichts von sich zurücklasse, nicht einmal das traditionelle Häufchen Asche,
das nach dem Volksaberglauben immer übrig bleibt, wenn eine teuflische Truggestalt
verschwindet?" Fast so viel strotzende Irrthümer, als Worte! Man mag uns
verzeihen, wenn wir sagen, daß eigentlich die beste Antwort auf diese Frage
die Antwort bildet, die man auf die Frage des Autors nach den Reifröcken
des zweiten Kaiserreichs zu geben hat. Diese sind inzwischen zu den bekannten
Regenschirmfntteral-Costümes zusammengeschrumpft. Warum? Weil es die
Mode will. Zur Zeit des zweiten Kaiserreichs war der 15. August als National-
sesttag Mode, heute ist es ein andrer oder keiner -- auf den Charakter des
Volks, der Gesellschaft, des Negieruugssystems und der Organisation der öffent¬
lichen Gewalten, überhaupt auf das ganze Gepräge des französischen National¬
staates ist dagegen in unsern Angen der Uebergang vom Kaiserreich zur Republik bis
jetzt fast ganz einflußlos gewesen. Man muß dem Zauber der Modephrasen,
welche die Republik natürlich so reichlich im Munde führt, wie das zweite
Kaiserreich die seinen, besonders zugänglich sein, um das zu verkennen. Betreffs
des Volkscharakters, der französischen Gesellschaft, sind wir jedes Beweises
dasür überhoben, daß diese etwa mit dem Uebergang in die Republik zwischen
dem 3. und 4. September 1870 oder etwa seither jene republikanischen Nor-
maltugenden angezogen hätten, welche Montesquieu in seinem IZsxrir ass lois
als unerläßliche Attribute des rechten und gerechten Republikaners bezeichnet.
In dieser Hinsicht führt Nordau selbst auf jeder Seite seiner zwei Bände den
vollsten und striktesten Gegenbeweis. Die bisher mitgetheilten Proben seiner
Ergebnisse erwecken gewiß in jedem Leser diese Ueberzeugung.

Aber ist denn etwa das "Regierungssystem, die so tief wurzelnde Orga¬
nisation" des zweiten Kaiserreichs seit dem 4. September 1870, oder richtiger
seitdem das Land mit Niederwerfung der Commune und dem Abzug der deutschen
Heere wieder ein einheitliches Staatsgebilde zeigt, bisher irgendwie anders
geworden unter republikanischer Firma? Hören wir über diese wichtige Frage
den vornehmsten Sachverständigen urtheilen, den die deutsche Wissenschaft über
französische Stantszustände gegenwärtig aufzuweisen hat. In einem sehr lesens-


Kritik lassen könnten. Wie gelangt er zu der hier allsgesprochenen Wahrneh¬
mung? Er beobachtet richtig, daß der Napoleonstag, den von 1852 bis 1870
ganz Paris mit Jubel feierte, jetzt nur von einem gedrückten Häuflein alter
Kaiserfreunde in aller Stille begangen werde. Er fragt nach den Höflingen,
den Beamten, den Günstlingen, den Hoflieferanten, den Reifröcken des zweiten
Kaiserreichs und findet sie nicht und das genügt ihm, die Frage auszuwerfen:
„wie ist es möglich, daß eine so weit ausgebreitete, so tief wurzelnde Organi¬
sation, wie ein Regierungssystem, das achtzehn Jahre lang eine Nation von
sechsunddreißig Millionen beherrscht hat, plötzlich in sich zusammenstürze und
nichts, gar nichts von sich zurücklasse, nicht einmal das traditionelle Häufchen Asche,
das nach dem Volksaberglauben immer übrig bleibt, wenn eine teuflische Truggestalt
verschwindet?" Fast so viel strotzende Irrthümer, als Worte! Man mag uns
verzeihen, wenn wir sagen, daß eigentlich die beste Antwort auf diese Frage
die Antwort bildet, die man auf die Frage des Autors nach den Reifröcken
des zweiten Kaiserreichs zu geben hat. Diese sind inzwischen zu den bekannten
Regenschirmfntteral-Costümes zusammengeschrumpft. Warum? Weil es die
Mode will. Zur Zeit des zweiten Kaiserreichs war der 15. August als National-
sesttag Mode, heute ist es ein andrer oder keiner — auf den Charakter des
Volks, der Gesellschaft, des Negieruugssystems und der Organisation der öffent¬
lichen Gewalten, überhaupt auf das ganze Gepräge des französischen National¬
staates ist dagegen in unsern Angen der Uebergang vom Kaiserreich zur Republik bis
jetzt fast ganz einflußlos gewesen. Man muß dem Zauber der Modephrasen,
welche die Republik natürlich so reichlich im Munde führt, wie das zweite
Kaiserreich die seinen, besonders zugänglich sein, um das zu verkennen. Betreffs
des Volkscharakters, der französischen Gesellschaft, sind wir jedes Beweises
dasür überhoben, daß diese etwa mit dem Uebergang in die Republik zwischen
dem 3. und 4. September 1870 oder etwa seither jene republikanischen Nor-
maltugenden angezogen hätten, welche Montesquieu in seinem IZsxrir ass lois
als unerläßliche Attribute des rechten und gerechten Republikaners bezeichnet.
In dieser Hinsicht führt Nordau selbst auf jeder Seite seiner zwei Bände den
vollsten und striktesten Gegenbeweis. Die bisher mitgetheilten Proben seiner
Ergebnisse erwecken gewiß in jedem Leser diese Ueberzeugung.

Aber ist denn etwa das „Regierungssystem, die so tief wurzelnde Orga¬
nisation" des zweiten Kaiserreichs seit dem 4. September 1870, oder richtiger
seitdem das Land mit Niederwerfung der Commune und dem Abzug der deutschen
Heere wieder ein einheitliches Staatsgebilde zeigt, bisher irgendwie anders
geworden unter republikanischer Firma? Hören wir über diese wichtige Frage
den vornehmsten Sachverständigen urtheilen, den die deutsche Wissenschaft über
französische Stantszustände gegenwärtig aufzuweisen hat. In einem sehr lesens-


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[0346] Kritik lassen könnten. Wie gelangt er zu der hier allsgesprochenen Wahrneh¬ mung? Er beobachtet richtig, daß der Napoleonstag, den von 1852 bis 1870 ganz Paris mit Jubel feierte, jetzt nur von einem gedrückten Häuflein alter Kaiserfreunde in aller Stille begangen werde. Er fragt nach den Höflingen, den Beamten, den Günstlingen, den Hoflieferanten, den Reifröcken des zweiten Kaiserreichs und findet sie nicht und das genügt ihm, die Frage auszuwerfen: „wie ist es möglich, daß eine so weit ausgebreitete, so tief wurzelnde Organi¬ sation, wie ein Regierungssystem, das achtzehn Jahre lang eine Nation von sechsunddreißig Millionen beherrscht hat, plötzlich in sich zusammenstürze und nichts, gar nichts von sich zurücklasse, nicht einmal das traditionelle Häufchen Asche, das nach dem Volksaberglauben immer übrig bleibt, wenn eine teuflische Truggestalt verschwindet?" Fast so viel strotzende Irrthümer, als Worte! Man mag uns verzeihen, wenn wir sagen, daß eigentlich die beste Antwort auf diese Frage die Antwort bildet, die man auf die Frage des Autors nach den Reifröcken des zweiten Kaiserreichs zu geben hat. Diese sind inzwischen zu den bekannten Regenschirmfntteral-Costümes zusammengeschrumpft. Warum? Weil es die Mode will. Zur Zeit des zweiten Kaiserreichs war der 15. August als National- sesttag Mode, heute ist es ein andrer oder keiner — auf den Charakter des Volks, der Gesellschaft, des Negieruugssystems und der Organisation der öffent¬ lichen Gewalten, überhaupt auf das ganze Gepräge des französischen National¬ staates ist dagegen in unsern Angen der Uebergang vom Kaiserreich zur Republik bis jetzt fast ganz einflußlos gewesen. Man muß dem Zauber der Modephrasen, welche die Republik natürlich so reichlich im Munde führt, wie das zweite Kaiserreich die seinen, besonders zugänglich sein, um das zu verkennen. Betreffs des Volkscharakters, der französischen Gesellschaft, sind wir jedes Beweises dasür überhoben, daß diese etwa mit dem Uebergang in die Republik zwischen dem 3. und 4. September 1870 oder etwa seither jene republikanischen Nor- maltugenden angezogen hätten, welche Montesquieu in seinem IZsxrir ass lois als unerläßliche Attribute des rechten und gerechten Republikaners bezeichnet. In dieser Hinsicht führt Nordau selbst auf jeder Seite seiner zwei Bände den vollsten und striktesten Gegenbeweis. Die bisher mitgetheilten Proben seiner Ergebnisse erwecken gewiß in jedem Leser diese Ueberzeugung. Aber ist denn etwa das „Regierungssystem, die so tief wurzelnde Orga¬ nisation" des zweiten Kaiserreichs seit dem 4. September 1870, oder richtiger seitdem das Land mit Niederwerfung der Commune und dem Abzug der deutschen Heere wieder ein einheitliches Staatsgebilde zeigt, bisher irgendwie anders geworden unter republikanischer Firma? Hören wir über diese wichtige Frage den vornehmsten Sachverständigen urtheilen, den die deutsche Wissenschaft über französische Stantszustände gegenwärtig aufzuweisen hat. In einem sehr lesens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/346>, abgerufen am 27.07.2024.