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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Wer Nordau's Arbeiten mit einiger Kenntniß der wahren Verhältnisse
liest und gelegentlich erstaunt bemerkt, wie hoch er Laufrey und die andern
Decentralisten schätzt, die unter dein zweiten Kaiserreich und zum Theil heute
wieder das Ohr der Menge nmflüstern, gewahrt leicht, woher seine Irrthümer
stammen. Möge auch hier das Urtheil Carl Hillebrand's über diese Richtung
mitgetheilt werden (S. 172): "Es giebt eine Schule in Frankreich, welche diese
Organisation selber bekämpft und an die Stelle der bewährten Verwaltung,
welche die Nation durch so viele Stürme immer vom Felsen gehalten hat,
örtliche und provinzielle Selbstverwaltung durch gewählte Obrigkeiten nach
amerikanischem Muster einsetzen und die straffe Centralisation des französischen
Staates lockern möchte. Thiers gehörte nicht zu dieser: er war nicht der
Mann dazu, irgeud eine der großen Traditionen seines Vaterlandes aufgeben
zu Wollen, und ich glaube, die Nation theilt seine Denk- und Gefühlsweise.
Auch sie ist in ihrer aufgeklärten Mehrheit republikanisch geworden, wie Thiers,
in dem Sinn, daß sie gesetzlich zu regeln wünscht, was seit nahezu hundert
Jahren thatsächlich stattfindet, die Verantwortlichkeit und den Wechsel des
Staatsoberhauptes. Es ist die große geschichtliche Bedeutung Thiers'. ,. noch
vor seinem Ende und vor dem Ende des vielbewegten Jahrhunderts gleich¬
zeitig mit seinen Landes-, Standes- und Zeitgenossen zur Einsicht gekommen
zu sein, daß die bureaukratisch organisirte demokratische Republik, d. h. die
gemäßigte und durch gesetzliche Periodicität geregelte Diktatur, die definitive
Staatsform ist, welche die Revolution von 1789 unklar voraussah, aber sicher
angestrebt hat, und welche nach fast hundertjährigen Erschütterungen und
Kämpfen endlich ans dem Punkte ist, bewußt verwirklicht zu werden."

Unsre Leser werden uus, nachdem wir diese Urtheile eines maßgebenden
deutschen Geschichtsforschers mitgetheilt, der ans den bekannten und aus den
bisher verschlossenen Quellen der Staatsarchive von Berlin, Turin, u. s. w.
mit der Geschichte und dem Volksleben Frankreichs vertrauter ist, als irgeud
ein anderer der deutschen Zeitgenossen, die Mittheilung der feuilletonistischeu
Aphorismen ersparen, die Nordau über den "Jahrestag der großen Revolu¬
tion" zum Besten giebt. Wer v. Sybel, den deutschen Geschichtsschreiber der
großen Revolution und des Consulats und Kaiserreichs in eine Linie stellen
kaun mit Putz und Franz Hoffmann, und ihn damit einschließen in das Ur¬
theil: "ihr seid ja erbärmliche Schurken, die sich die Nacht unserer kindlichen
Unwissenheit (!) zu Nutze machten, um in unser Herz einzubrechen, unsere
legitimen Sympathien" -- für Marat, Robespiere u. s. w.! -- "zu stehlen
und an ihre Stelle einen Wechselbalg, ein Bündel falschen Enthusiasmus iM!)
und ungerechter Vorliebe hinzulegen"; wer den Standpunkt Sybels gegenüber
der französischen Revolution mit dem cynischen Bilde zu bezeichnen wagt: "Der


Wer Nordau's Arbeiten mit einiger Kenntniß der wahren Verhältnisse
liest und gelegentlich erstaunt bemerkt, wie hoch er Laufrey und die andern
Decentralisten schätzt, die unter dein zweiten Kaiserreich und zum Theil heute
wieder das Ohr der Menge nmflüstern, gewahrt leicht, woher seine Irrthümer
stammen. Möge auch hier das Urtheil Carl Hillebrand's über diese Richtung
mitgetheilt werden (S. 172): „Es giebt eine Schule in Frankreich, welche diese
Organisation selber bekämpft und an die Stelle der bewährten Verwaltung,
welche die Nation durch so viele Stürme immer vom Felsen gehalten hat,
örtliche und provinzielle Selbstverwaltung durch gewählte Obrigkeiten nach
amerikanischem Muster einsetzen und die straffe Centralisation des französischen
Staates lockern möchte. Thiers gehörte nicht zu dieser: er war nicht der
Mann dazu, irgeud eine der großen Traditionen seines Vaterlandes aufgeben
zu Wollen, und ich glaube, die Nation theilt seine Denk- und Gefühlsweise.
Auch sie ist in ihrer aufgeklärten Mehrheit republikanisch geworden, wie Thiers,
in dem Sinn, daß sie gesetzlich zu regeln wünscht, was seit nahezu hundert
Jahren thatsächlich stattfindet, die Verantwortlichkeit und den Wechsel des
Staatsoberhauptes. Es ist die große geschichtliche Bedeutung Thiers'. ,. noch
vor seinem Ende und vor dem Ende des vielbewegten Jahrhunderts gleich¬
zeitig mit seinen Landes-, Standes- und Zeitgenossen zur Einsicht gekommen
zu sein, daß die bureaukratisch organisirte demokratische Republik, d. h. die
gemäßigte und durch gesetzliche Periodicität geregelte Diktatur, die definitive
Staatsform ist, welche die Revolution von 1789 unklar voraussah, aber sicher
angestrebt hat, und welche nach fast hundertjährigen Erschütterungen und
Kämpfen endlich ans dem Punkte ist, bewußt verwirklicht zu werden."

Unsre Leser werden uus, nachdem wir diese Urtheile eines maßgebenden
deutschen Geschichtsforschers mitgetheilt, der ans den bekannten und aus den
bisher verschlossenen Quellen der Staatsarchive von Berlin, Turin, u. s. w.
mit der Geschichte und dem Volksleben Frankreichs vertrauter ist, als irgeud
ein anderer der deutschen Zeitgenossen, die Mittheilung der feuilletonistischeu
Aphorismen ersparen, die Nordau über den „Jahrestag der großen Revolu¬
tion" zum Besten giebt. Wer v. Sybel, den deutschen Geschichtsschreiber der
großen Revolution und des Consulats und Kaiserreichs in eine Linie stellen
kaun mit Putz und Franz Hoffmann, und ihn damit einschließen in das Ur¬
theil: „ihr seid ja erbärmliche Schurken, die sich die Nacht unserer kindlichen
Unwissenheit (!) zu Nutze machten, um in unser Herz einzubrechen, unsere
legitimen Sympathien" — für Marat, Robespiere u. s. w.! — „zu stehlen
und an ihre Stelle einen Wechselbalg, ein Bündel falschen Enthusiasmus iM!)
und ungerechter Vorliebe hinzulegen"; wer den Standpunkt Sybels gegenüber
der französischen Revolution mit dem cynischen Bilde zu bezeichnen wagt: „Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/348>, abgerufen am 01.09.2024.