Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.verbringen, das herantretende Neue Jahr in ernst-gehobener Stimmung mit Weniger zutreffend finden wir die beiden folgenden mehr politischen Num¬ verbringen, das herantretende Neue Jahr in ernst-gehobener Stimmung mit Weniger zutreffend finden wir die beiden folgenden mehr politischen Num¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0345" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140166"/> <p xml:id="ID_1012" prev="#ID_1011"> verbringen, das herantretende Neue Jahr in ernst-gehobener Stimmung mit<lb/> wechselseitigen Segenswünschen und glückverheißenden Hoffnungen und Vorsätzen<lb/> zu begrüßen. Nichts von Alledem in Paris; der Sylvesterabend in der fran¬<lb/> zösischen Hauptstadt bietet das grade Gegenbild. Die ganze Bevölkerung, die<lb/> nur irgend das Haus verlassen kann, ohne Unterschied des Alters und Ge¬<lb/> schlechts, strömt auf die Boulevards, um dort in einem gräulichen Chaos von<lb/> Menschen, Fuhrwerken und Thieren seinen Antheil an der herkömmlichen eigen-<lb/> thümlichen Freude des Tages zu genießen. Diese Freude aber besteht in<lb/> nichts und kann in nichts Andrem bestehen, als in dem Anblick der ungeheuren<lb/> Menge von Jahrmarktsbuden, die sich zur Ausbeutung der Börsen und zur<lb/> Qual aller Nerven des wogenden Menschenchaos für diesen Tag auf deu<lb/> Boulevards etablirt haben. Die Mittel, welche diese Marktschreier anwenden,<lb/> um ihren Schund dem Publikum zwischen zwei Tagen aufzuhängen, erinnern<lb/> lebhaft an unsere Sensationsannoucen. „Ein Attentat auf feinen Geld¬<lb/> beutel begeht" — werden wir nun bald lesen, wobei das „Attentat" natürlich<lb/> sehr fett gedruckt ist — „wer uicht bei Selig Steif seine Sommergarderobe<lb/> einkauft." Der Pariser ist aber noch viel kindischer. „In einer Minute um<lb/> die Welt!" brüllt da Einer und verkauft — kleine hölzerne Globen. „Uner¬<lb/> hört billig, meine Konkurrenten wollen mich vergiften!" stöhnt ein Andrer, der<lb/> Schase mit wackelnden Köpfen aufbietet, „Sie glauben, ich bin verrückt?"<lb/> Perorirt ein Dritter mit Löwenstimme gegen einen eingebildeten Widersacher,<lb/> „man könnte es glauben, wenn man meine Waaren und meine Preise sieht."<lb/> Ein Vierter stößt einen Schrei aus, daß zehn Leute ans ihn zustürzen, um<lb/> ihn den Händen von Mördern zu entreißen. Alsbald sagt der Unglückliche:<lb/> „Haben Sie meinen Ruf gehört? Einen solchen Ruf hat gestern ein erstaunter<lb/> Engländer ausgestoßen, als ich ihm diese Puppe um 29 Sous anbot," u. s. w.<lb/> Einigermaßen erklärt wird dieser Hexenbränel durch die Sitte der Franzosen,<lb/> zu Neujahr sich mit meist lustigen und satirischen Geschenken zu überraschen,<lb/> die in diesem Budenreihen allerdings in Fülle zu haben sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_1013" next="#ID_1014"> Weniger zutreffend finden wir die beiden folgenden mehr politischen Num¬<lb/> mern „Von eiuer versunkenen Welt" (Napoleonstag) nud „der Jahrestag der<lb/> großen Revolution". Der Verfasser meint, die ganze Zeit und Gesellschaft des<lb/> zweiten Kaiserreichs sei „versunken und vergessen wie eine ks-er inen-Zg-RA, ver¬<lb/> schwunden wie das goldne Schloß des Friesenherzogs Radbot. Und ginge<lb/> nicht manchmal ein Geldstück mit dem Bilde Napoleons durch unsre Finger,<lb/> sähen wir uicht ab und zu auf einem Brückenpfeiler ein gekröntes „N", wir<lb/> würden uns gar nicht mehr erinnern, daß es je ein zweites Kaiserreich und<lb/> einen dritten Napoleon gegeben habe." Für die Manier geschichtlicher Betrach¬<lb/> tung des Verfassers ist dieser Satz zu charakteristisch, als daß wir ihn ohne</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0345]
verbringen, das herantretende Neue Jahr in ernst-gehobener Stimmung mit
wechselseitigen Segenswünschen und glückverheißenden Hoffnungen und Vorsätzen
zu begrüßen. Nichts von Alledem in Paris; der Sylvesterabend in der fran¬
zösischen Hauptstadt bietet das grade Gegenbild. Die ganze Bevölkerung, die
nur irgend das Haus verlassen kann, ohne Unterschied des Alters und Ge¬
schlechts, strömt auf die Boulevards, um dort in einem gräulichen Chaos von
Menschen, Fuhrwerken und Thieren seinen Antheil an der herkömmlichen eigen-
thümlichen Freude des Tages zu genießen. Diese Freude aber besteht in
nichts und kann in nichts Andrem bestehen, als in dem Anblick der ungeheuren
Menge von Jahrmarktsbuden, die sich zur Ausbeutung der Börsen und zur
Qual aller Nerven des wogenden Menschenchaos für diesen Tag auf deu
Boulevards etablirt haben. Die Mittel, welche diese Marktschreier anwenden,
um ihren Schund dem Publikum zwischen zwei Tagen aufzuhängen, erinnern
lebhaft an unsere Sensationsannoucen. „Ein Attentat auf feinen Geld¬
beutel begeht" — werden wir nun bald lesen, wobei das „Attentat" natürlich
sehr fett gedruckt ist — „wer uicht bei Selig Steif seine Sommergarderobe
einkauft." Der Pariser ist aber noch viel kindischer. „In einer Minute um
die Welt!" brüllt da Einer und verkauft — kleine hölzerne Globen. „Uner¬
hört billig, meine Konkurrenten wollen mich vergiften!" stöhnt ein Andrer, der
Schase mit wackelnden Köpfen aufbietet, „Sie glauben, ich bin verrückt?"
Perorirt ein Dritter mit Löwenstimme gegen einen eingebildeten Widersacher,
„man könnte es glauben, wenn man meine Waaren und meine Preise sieht."
Ein Vierter stößt einen Schrei aus, daß zehn Leute ans ihn zustürzen, um
ihn den Händen von Mördern zu entreißen. Alsbald sagt der Unglückliche:
„Haben Sie meinen Ruf gehört? Einen solchen Ruf hat gestern ein erstaunter
Engländer ausgestoßen, als ich ihm diese Puppe um 29 Sous anbot," u. s. w.
Einigermaßen erklärt wird dieser Hexenbränel durch die Sitte der Franzosen,
zu Neujahr sich mit meist lustigen und satirischen Geschenken zu überraschen,
die in diesem Budenreihen allerdings in Fülle zu haben sind.
Weniger zutreffend finden wir die beiden folgenden mehr politischen Num¬
mern „Von eiuer versunkenen Welt" (Napoleonstag) nud „der Jahrestag der
großen Revolution". Der Verfasser meint, die ganze Zeit und Gesellschaft des
zweiten Kaiserreichs sei „versunken und vergessen wie eine ks-er inen-Zg-RA, ver¬
schwunden wie das goldne Schloß des Friesenherzogs Radbot. Und ginge
nicht manchmal ein Geldstück mit dem Bilde Napoleons durch unsre Finger,
sähen wir uicht ab und zu auf einem Brückenpfeiler ein gekröntes „N", wir
würden uns gar nicht mehr erinnern, daß es je ein zweites Kaiserreich und
einen dritten Napoleon gegeben habe." Für die Manier geschichtlicher Betrach¬
tung des Verfassers ist dieser Satz zu charakteristisch, als daß wir ihn ohne
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