Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.Schnürleib gesteckt, sowie sie laufen lerne würden ihr Stiefelchen mit Stelz¬ Wie der Knabe, wird das Pariser Mädchen mit zehn oder zwölf Jahren Schnürleib gesteckt, sowie sie laufen lerne würden ihr Stiefelchen mit Stelz¬ Wie der Knabe, wird das Pariser Mädchen mit zehn oder zwölf Jahren <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0315" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140136"/> <p xml:id="ID_928" prev="#ID_927"> Schnürleib gesteckt, sowie sie laufen lerne würden ihr Stiefelchen mit Stelz¬<lb/> absätzen angeschnallt, sowie sie in die Schule gehe würden ihre Augenbrauen<lb/> gemalt, ihr Wangen mit Reispulver bestrichen, zu vier Jahren sei sie mit allen<lb/> Details des Boudoirs vertraut, zu sechs Jahren seien ihr alle Mysterien der<lb/> weiblichen Vergnügungsprozeduren ein offenes Buch und zu zehn wisse sie die<lb/> komplizirteste Toilette bis auf zehn Sous abzuschätzen. Aber um so wahrer<lb/> und realistischer ist, was der Versasser über die verkehrte Kleidung, Ernährung<lb/> und Erziehung der Pariser Mädchen im Allgemeinen bemerkt. Die absolut<lb/> kindliche d. h. geschlechtslose Naivetät geht der kleinen Pariserin schon mit<lb/> dem ersten Aufdämmern des Bewußtseins verloren. Sie wird von da ab schon<lb/> „ein kleines Weib, das ganz bestimmt seine Sonderstellung und den Antago¬<lb/> nismus zum andern Geschlecht empfindet— Die frühesten Ueberzeugungen,<lb/> die ihr Mutter und Großmutter, Gouvernante und Stubenmädchen beibringen,<lb/> sind, daß dem Weibe die Welt geHort, daß der Manu dazu bestimmt sei, ihn:<lb/> als willenloser Sklave zu dienen, daß die Pariserin die herrlichste Blüthe<lb/> ihres Geschlechts und sie selbst die vollkommenste, reizendste und anmuthigste<lb/> aller Pariserinnen sei. Diese Grundanschauungen bilden das Fundament, auf<lb/> welchem sich ihre fernere (!) Erziehung aufbaut."</p><lb/> <p xml:id="ID_929" next="#ID_930"> Wie der Knabe, wird das Pariser Mädchen mit zehn oder zwölf Jahren<lb/> der Pension übergeben, von aller Einwirkung der Mutter abgeschnitten, tief<lb/> unwissende Nonnen leiten ihren Untericht. Hodl und äußerlich im höchsten<lb/> Grade ist Alles, was sie lernt, was gelehrt wird. Die Fabeln Lafontaine's<lb/> die Reden Bossuet's lernt sie auswendig, Grammatik, Orthographie, Rhetorik,<lb/> Stilaufgaben, pathetische Briefe werden jahrelang geübt. Von Geschichte und<lb/> Geographie lernt sie blutwenig, von Arithmetik und den Naturwissenschaften<lb/> gar nichts. Fremde Sprachen erlernt die Pariserin in den seltensten Fällen<lb/> in dem Maße, daß sie ein fremdzungiges Werk selbst lesen, oder gar eine<lb/> leidliche Konversation in der erlernten fremden Sprache führen könnte. Zeichnen<lb/> und Musik stehen eigentlich nnr auf dem Programm. Um so intensiver ist<lb/> das, was man in diesen unglückseligen Pensionaten die religiöse Erziehung<lb/> nennt: Andachten, Katechismus, Messen, Beichten, Alles wird gewerksmäßig<lb/> nach dem Motto betrieben: „Die Masse muß es bringen". Voll der finstersten<lb/> abergläubischen Bigotterie ist das junge Mädchenherz, wenn es mit achtzehn<lb/> Jahren wieder die Pension verläßt und in die Familie zurückkehrt. „Selten<lb/> schön, gewöhnlich nicht einmal hübsch, hat sie immer sehr viel Haltung und<lb/> große Eleganz der Formen." Ihre Unwissenheit wird einiger Maßen aufge¬<lb/> wogen durch den gewaltigen Anschauungsunterricht, den die Hauptstadt bietet.<lb/> Ihre Eitelkeit ist krankhaft, ihre Herrschsucht unbezähmbar. Kaum wird die<lb/> mütterliche Autorität noch ertragen. Bleichsüchtig, blutarm, von delikater Ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0315]
Schnürleib gesteckt, sowie sie laufen lerne würden ihr Stiefelchen mit Stelz¬
absätzen angeschnallt, sowie sie in die Schule gehe würden ihre Augenbrauen
gemalt, ihr Wangen mit Reispulver bestrichen, zu vier Jahren sei sie mit allen
Details des Boudoirs vertraut, zu sechs Jahren seien ihr alle Mysterien der
weiblichen Vergnügungsprozeduren ein offenes Buch und zu zehn wisse sie die
komplizirteste Toilette bis auf zehn Sous abzuschätzen. Aber um so wahrer
und realistischer ist, was der Versasser über die verkehrte Kleidung, Ernährung
und Erziehung der Pariser Mädchen im Allgemeinen bemerkt. Die absolut
kindliche d. h. geschlechtslose Naivetät geht der kleinen Pariserin schon mit
dem ersten Aufdämmern des Bewußtseins verloren. Sie wird von da ab schon
„ein kleines Weib, das ganz bestimmt seine Sonderstellung und den Antago¬
nismus zum andern Geschlecht empfindet— Die frühesten Ueberzeugungen,
die ihr Mutter und Großmutter, Gouvernante und Stubenmädchen beibringen,
sind, daß dem Weibe die Welt geHort, daß der Manu dazu bestimmt sei, ihn:
als willenloser Sklave zu dienen, daß die Pariserin die herrlichste Blüthe
ihres Geschlechts und sie selbst die vollkommenste, reizendste und anmuthigste
aller Pariserinnen sei. Diese Grundanschauungen bilden das Fundament, auf
welchem sich ihre fernere (!) Erziehung aufbaut."
Wie der Knabe, wird das Pariser Mädchen mit zehn oder zwölf Jahren
der Pension übergeben, von aller Einwirkung der Mutter abgeschnitten, tief
unwissende Nonnen leiten ihren Untericht. Hodl und äußerlich im höchsten
Grade ist Alles, was sie lernt, was gelehrt wird. Die Fabeln Lafontaine's
die Reden Bossuet's lernt sie auswendig, Grammatik, Orthographie, Rhetorik,
Stilaufgaben, pathetische Briefe werden jahrelang geübt. Von Geschichte und
Geographie lernt sie blutwenig, von Arithmetik und den Naturwissenschaften
gar nichts. Fremde Sprachen erlernt die Pariserin in den seltensten Fällen
in dem Maße, daß sie ein fremdzungiges Werk selbst lesen, oder gar eine
leidliche Konversation in der erlernten fremden Sprache führen könnte. Zeichnen
und Musik stehen eigentlich nnr auf dem Programm. Um so intensiver ist
das, was man in diesen unglückseligen Pensionaten die religiöse Erziehung
nennt: Andachten, Katechismus, Messen, Beichten, Alles wird gewerksmäßig
nach dem Motto betrieben: „Die Masse muß es bringen". Voll der finstersten
abergläubischen Bigotterie ist das junge Mädchenherz, wenn es mit achtzehn
Jahren wieder die Pension verläßt und in die Familie zurückkehrt. „Selten
schön, gewöhnlich nicht einmal hübsch, hat sie immer sehr viel Haltung und
große Eleganz der Formen." Ihre Unwissenheit wird einiger Maßen aufge¬
wogen durch den gewaltigen Anschauungsunterricht, den die Hauptstadt bietet.
Ihre Eitelkeit ist krankhaft, ihre Herrschsucht unbezähmbar. Kaum wird die
mütterliche Autorität noch ertragen. Bleichsüchtig, blutarm, von delikater Ge-
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