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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Von Kindesbeinen an fühlt der Franzose das wachsame wohlwollende Staats¬
auge auf sich gerichtet. Schon der Elemeutarschttler empfängt in einem präch¬
tigen Stern von Goldblech offizielle Beweise der Staatsgunst. Mannigfaltig
und unserm Gefühl meist sehr komisch sind die Auszeichnungen, die der Staat
den verschiedenen Stadien der Entwickelung in den verschiedenen Berufen zu
vergeben hat -- Nordau zählt sie soweit thunlich vollständig auf -- bis end¬
lich das unvermeidliche Band der Ehrenlegion, das von 75,000 der höchstver-
dienteu Franzosen getragen wird, dem phänomenalen Verdienste die nationale
Krone aufsetzt. Den schroffsten Gegensatz zu diesem Staatsprämienfystem, d.en
kategorischen Imperativ Kants, hebt auch Nordau hervor. Aber wenn er
zweifelnd fragt, "welchem Staate, welchem Systeme man den Vorzug geben
solle" oder die Geschichte recht gebe -- so kann uns Deutschen und allen
denen, welche die Geschichte uicht blos nach Erfolgen beurtheilen -- und selbst
diesen --- die Antwort nicht zweifelhaft sein.

Die folgenden Kapitel: "Die offiziellen Carriören in Frankreich: "die
Bohvme" und "die Journalistik der Boheme" lassen eigentlich unser Interesse
an den Schilderungen des Verfassers etwas erkalten. Bei den offiziellen
Carridren hat der Verfasser fast nur die Aeußerlichkeiten der französischen
Prüfungsskala sür jeden Stand zu rügen, ohne in dieser Hinsicht dem Kenner
viel Neues zu bieten, und die Bohöme der Pariser Gesellschaft und Journa¬
listik hat Arthur Levysohn in seiner kleinen Sammlung "Aus einem Kaiser¬
reich"*) weit lustiger und detaillirter behandelt.

Dagegen bietet die Abhandlung: "Das Weib und seine Stellung
in Paris", soviel auch über diesen Gegenstand geschrieben, gelesen und auf
den Bretern gespielt wird, in mancher Hinsicht Neues und Treffendes. Hier
sind die Augen des Arztes dem Beobachter sehr werthvoll. Denn es handelt
sich dabei in der Hauptsache doch nur um die richtige Erkenntniß und Be¬
handlung krankhafter Erscheinungen. Kein Gartenkünstler der Rokokozeit, meint
der Verfasser, habe die ihm anvertrauten Pflanzen ihren eigentlichen Wachs¬
thumszielen so entfremdet, als das Pariser Leben das Weib von seinen natür¬
lichen Entwickelungsidealen enfernt habe. Nichts an der Pariserin ist natürlich,
nicht ihr Körper, ihr Geist, ihr Blick, ihre Sprache, ihr Gang, ihre Anschau¬
ungsweise ... überall hat man nachgeknetet, ciselirt, gepreßt, gezerrt, überall ist
gemeißelt, gedreht, polirt, zugefügt worden, bis die Gestalt dem künstlichen
Ideal nahe gekommen ist, welches die Pariser Cultur vom Weibe erschaffen hat.

Es länft nun gewiß einige Uebertreibung mit unter, wenn der Verfasser
versichert, die Pariserin werde fast unmittelbar nach ihrer Geburt in einen



) Berlin, Ferd. Dümmler, 1877.

Von Kindesbeinen an fühlt der Franzose das wachsame wohlwollende Staats¬
auge auf sich gerichtet. Schon der Elemeutarschttler empfängt in einem präch¬
tigen Stern von Goldblech offizielle Beweise der Staatsgunst. Mannigfaltig
und unserm Gefühl meist sehr komisch sind die Auszeichnungen, die der Staat
den verschiedenen Stadien der Entwickelung in den verschiedenen Berufen zu
vergeben hat — Nordau zählt sie soweit thunlich vollständig auf — bis end¬
lich das unvermeidliche Band der Ehrenlegion, das von 75,000 der höchstver-
dienteu Franzosen getragen wird, dem phänomenalen Verdienste die nationale
Krone aufsetzt. Den schroffsten Gegensatz zu diesem Staatsprämienfystem, d.en
kategorischen Imperativ Kants, hebt auch Nordau hervor. Aber wenn er
zweifelnd fragt, „welchem Staate, welchem Systeme man den Vorzug geben
solle" oder die Geschichte recht gebe — so kann uns Deutschen und allen
denen, welche die Geschichte uicht blos nach Erfolgen beurtheilen — und selbst
diesen —- die Antwort nicht zweifelhaft sein.

Die folgenden Kapitel: „Die offiziellen Carriören in Frankreich: „die
Bohvme" und „die Journalistik der Boheme" lassen eigentlich unser Interesse
an den Schilderungen des Verfassers etwas erkalten. Bei den offiziellen
Carridren hat der Verfasser fast nur die Aeußerlichkeiten der französischen
Prüfungsskala sür jeden Stand zu rügen, ohne in dieser Hinsicht dem Kenner
viel Neues zu bieten, und die Bohöme der Pariser Gesellschaft und Journa¬
listik hat Arthur Levysohn in seiner kleinen Sammlung „Aus einem Kaiser¬
reich"*) weit lustiger und detaillirter behandelt.

Dagegen bietet die Abhandlung: „Das Weib und seine Stellung
in Paris", soviel auch über diesen Gegenstand geschrieben, gelesen und auf
den Bretern gespielt wird, in mancher Hinsicht Neues und Treffendes. Hier
sind die Augen des Arztes dem Beobachter sehr werthvoll. Denn es handelt
sich dabei in der Hauptsache doch nur um die richtige Erkenntniß und Be¬
handlung krankhafter Erscheinungen. Kein Gartenkünstler der Rokokozeit, meint
der Verfasser, habe die ihm anvertrauten Pflanzen ihren eigentlichen Wachs¬
thumszielen so entfremdet, als das Pariser Leben das Weib von seinen natür¬
lichen Entwickelungsidealen enfernt habe. Nichts an der Pariserin ist natürlich,
nicht ihr Körper, ihr Geist, ihr Blick, ihre Sprache, ihr Gang, ihre Anschau¬
ungsweise ... überall hat man nachgeknetet, ciselirt, gepreßt, gezerrt, überall ist
gemeißelt, gedreht, polirt, zugefügt worden, bis die Gestalt dem künstlichen
Ideal nahe gekommen ist, welches die Pariser Cultur vom Weibe erschaffen hat.

Es länft nun gewiß einige Uebertreibung mit unter, wenn der Verfasser
versichert, die Pariserin werde fast unmittelbar nach ihrer Geburt in einen



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[0314] Von Kindesbeinen an fühlt der Franzose das wachsame wohlwollende Staats¬ auge auf sich gerichtet. Schon der Elemeutarschttler empfängt in einem präch¬ tigen Stern von Goldblech offizielle Beweise der Staatsgunst. Mannigfaltig und unserm Gefühl meist sehr komisch sind die Auszeichnungen, die der Staat den verschiedenen Stadien der Entwickelung in den verschiedenen Berufen zu vergeben hat — Nordau zählt sie soweit thunlich vollständig auf — bis end¬ lich das unvermeidliche Band der Ehrenlegion, das von 75,000 der höchstver- dienteu Franzosen getragen wird, dem phänomenalen Verdienste die nationale Krone aufsetzt. Den schroffsten Gegensatz zu diesem Staatsprämienfystem, d.en kategorischen Imperativ Kants, hebt auch Nordau hervor. Aber wenn er zweifelnd fragt, „welchem Staate, welchem Systeme man den Vorzug geben solle" oder die Geschichte recht gebe — so kann uns Deutschen und allen denen, welche die Geschichte uicht blos nach Erfolgen beurtheilen — und selbst diesen —- die Antwort nicht zweifelhaft sein. Die folgenden Kapitel: „Die offiziellen Carriören in Frankreich: „die Bohvme" und „die Journalistik der Boheme" lassen eigentlich unser Interesse an den Schilderungen des Verfassers etwas erkalten. Bei den offiziellen Carridren hat der Verfasser fast nur die Aeußerlichkeiten der französischen Prüfungsskala sür jeden Stand zu rügen, ohne in dieser Hinsicht dem Kenner viel Neues zu bieten, und die Bohöme der Pariser Gesellschaft und Journa¬ listik hat Arthur Levysohn in seiner kleinen Sammlung „Aus einem Kaiser¬ reich"*) weit lustiger und detaillirter behandelt. Dagegen bietet die Abhandlung: „Das Weib und seine Stellung in Paris", soviel auch über diesen Gegenstand geschrieben, gelesen und auf den Bretern gespielt wird, in mancher Hinsicht Neues und Treffendes. Hier sind die Augen des Arztes dem Beobachter sehr werthvoll. Denn es handelt sich dabei in der Hauptsache doch nur um die richtige Erkenntniß und Be¬ handlung krankhafter Erscheinungen. Kein Gartenkünstler der Rokokozeit, meint der Verfasser, habe die ihm anvertrauten Pflanzen ihren eigentlichen Wachs¬ thumszielen so entfremdet, als das Pariser Leben das Weib von seinen natür¬ lichen Entwickelungsidealen enfernt habe. Nichts an der Pariserin ist natürlich, nicht ihr Körper, ihr Geist, ihr Blick, ihre Sprache, ihr Gang, ihre Anschau¬ ungsweise ... überall hat man nachgeknetet, ciselirt, gepreßt, gezerrt, überall ist gemeißelt, gedreht, polirt, zugefügt worden, bis die Gestalt dem künstlichen Ideal nahe gekommen ist, welches die Pariser Cultur vom Weibe erschaffen hat. Es länft nun gewiß einige Uebertreibung mit unter, wenn der Verfasser versichert, die Pariserin werde fast unmittelbar nach ihrer Geburt in einen ) Berlin, Ferd. Dümmler, 1877.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/314>, abgerufen am 27.07.2024.