Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.sundheit, ist sie einem wunderlichen Wechsel von Stimmungen unterworfen. Auch hier vermissen wir die gerechte Verkeilung von Licht und Schatten, Zeiten und Völker, Band 1 bis 4. Berlin, V. Hertz, 1873--78.
sundheit, ist sie einem wunderlichen Wechsel von Stimmungen unterworfen. Auch hier vermissen wir die gerechte Verkeilung von Licht und Schatten, Zeiten und Völker, Band 1 bis 4. Berlin, V. Hertz, 1873—78.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0316" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140137"/> <p xml:id="ID_930" prev="#ID_929"> sundheit, ist sie einem wunderlichen Wechsel von Stimmungen unterworfen.<lb/> Ihre Launen sind unberechenbar und sie ist gewöhnt, von allen sich wider¬<lb/> standslos fortreißen zu lassen." Frühzeitig verräth ihr eine sorgsame Musterung<lb/> des Publikums der Boulevards, des Bois de Boulogne, der Theater und Kon¬<lb/> zerte, die Lektüre der Moderomane, die schlüpfrigen Seiten des Pariser Lebens.<lb/> Durch und durch nervös, zugleich mittelalterlich abergläubisch und modern<lb/> skeptisch, nüchtern, verständig und ohne alle Illusion, blickt sie in die Welt,<lb/> von vagen heißen Wünschen durchbebt. So wird sie verheirathet an einen<lb/> Mann, den sie meist erst wenig Wochen vor der Hochzeit kennen lernt; ohne<lb/> Kenntniß des Hauswesens und der Wirthschaft, mit dem festen Entschlüsse im<lb/> Salon und Schlafzimmer unumschränkt zu herrschen.</p><lb/> <p xml:id="ID_931" next="#ID_932"> Auch hier vermissen wir die gerechte Verkeilung von Licht und Schatten,<lb/> die Karl Hillebr and der französischen Ehe zu Theil werden läßt. Er, der<lb/> Deutsche, das Kind des Volkes, das seine Ehen meist nach Neigung, seltener nach<lb/> dem Verstand der Eltern und Verwandten schließt, weiß in seinen werthvollen<lb/> Sittenschilderungen aus Frankreichs) nicht oft und eindringlich genug zu be¬<lb/> tonen, daß die meisten der französischen Verstandesehen wahrhaft glückliche für<lb/> beide Ehegatten wie für die Kinder genannt werden können. Der Grund des<lb/> weit auseinander gehenden Urtheils der beiden Beobachter liegt offenbar darin,<lb/> daß Nordau nur die Ehe der modernen französischen Hauptstadt und in dieser<lb/> wieder vorzugsweise die Ehe der obern Zehntausend in Betracht zieht. Denn<lb/> auch Nordau erkennt an, daß „die Pariserin der Mittelklasse die gesellschaftliche<lb/> Stabilität, den bürgerlichen Fleiß und einen großen Theil der nationalen<lb/> Arbeit repräsentirt, die Pariserin der oberen Zehntausend aber die sittliche<lb/> Zersetzung und den sozialen Zerfall und das mit denselben Eigenschaften, welche<lb/> in? andern Falle zu den rühmenswerthen Resultaten führen." In jedem Falle<lb/> hat Nordau aber Recht, und darin ist ihm Karl Braun in seinem Buche<lb/> „Während des Kriegs" (1871) schon vorangegangen, daß er den größten Theil<lb/> des wirklich verderblichen Einflusses der französischen Fran in Staat und Ge¬<lb/> sellschaft dem Umstand zuweist, daß die Rolle und der Wirkungskreis der beiden<lb/> Geschlechter unnatürlich vertauscht ist. Wie die Französin der Bürgerkreise<lb/> herrscht nicht blos im Hause, sondern auch im Geschäft und Comptoir des<lb/> Mannes, so herrscht sie in der großen Welt der Hauptstadt auch in allen<lb/> Interessen, welche die Salons, die Politik des Landes bewegen, aber nicht durch<lb/> Thatkraft, nicht durch die offene Macht überzeugender Rede und von idealem Streben<lb/> getragener Handlung, sondern durch die geheimen Schlingen, meist nur durch<lb/> unlautere persönliche Beweggründe geleiteter und Genossen werdender Intrigue.</p><lb/> <note xml:id="FID_91" place="foot"> Zeiten und Völker, Band 1 bis 4. Berlin, V. Hertz, 1873—78.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0316]
sundheit, ist sie einem wunderlichen Wechsel von Stimmungen unterworfen.
Ihre Launen sind unberechenbar und sie ist gewöhnt, von allen sich wider¬
standslos fortreißen zu lassen." Frühzeitig verräth ihr eine sorgsame Musterung
des Publikums der Boulevards, des Bois de Boulogne, der Theater und Kon¬
zerte, die Lektüre der Moderomane, die schlüpfrigen Seiten des Pariser Lebens.
Durch und durch nervös, zugleich mittelalterlich abergläubisch und modern
skeptisch, nüchtern, verständig und ohne alle Illusion, blickt sie in die Welt,
von vagen heißen Wünschen durchbebt. So wird sie verheirathet an einen
Mann, den sie meist erst wenig Wochen vor der Hochzeit kennen lernt; ohne
Kenntniß des Hauswesens und der Wirthschaft, mit dem festen Entschlüsse im
Salon und Schlafzimmer unumschränkt zu herrschen.
Auch hier vermissen wir die gerechte Verkeilung von Licht und Schatten,
die Karl Hillebr and der französischen Ehe zu Theil werden läßt. Er, der
Deutsche, das Kind des Volkes, das seine Ehen meist nach Neigung, seltener nach
dem Verstand der Eltern und Verwandten schließt, weiß in seinen werthvollen
Sittenschilderungen aus Frankreichs) nicht oft und eindringlich genug zu be¬
tonen, daß die meisten der französischen Verstandesehen wahrhaft glückliche für
beide Ehegatten wie für die Kinder genannt werden können. Der Grund des
weit auseinander gehenden Urtheils der beiden Beobachter liegt offenbar darin,
daß Nordau nur die Ehe der modernen französischen Hauptstadt und in dieser
wieder vorzugsweise die Ehe der obern Zehntausend in Betracht zieht. Denn
auch Nordau erkennt an, daß „die Pariserin der Mittelklasse die gesellschaftliche
Stabilität, den bürgerlichen Fleiß und einen großen Theil der nationalen
Arbeit repräsentirt, die Pariserin der oberen Zehntausend aber die sittliche
Zersetzung und den sozialen Zerfall und das mit denselben Eigenschaften, welche
in? andern Falle zu den rühmenswerthen Resultaten führen." In jedem Falle
hat Nordau aber Recht, und darin ist ihm Karl Braun in seinem Buche
„Während des Kriegs" (1871) schon vorangegangen, daß er den größten Theil
des wirklich verderblichen Einflusses der französischen Fran in Staat und Ge¬
sellschaft dem Umstand zuweist, daß die Rolle und der Wirkungskreis der beiden
Geschlechter unnatürlich vertauscht ist. Wie die Französin der Bürgerkreise
herrscht nicht blos im Hause, sondern auch im Geschäft und Comptoir des
Mannes, so herrscht sie in der großen Welt der Hauptstadt auch in allen
Interessen, welche die Salons, die Politik des Landes bewegen, aber nicht durch
Thatkraft, nicht durch die offene Macht überzeugender Rede und von idealem Streben
getragener Handlung, sondern durch die geheimen Schlingen, meist nur durch
unlautere persönliche Beweggründe geleiteter und Genossen werdender Intrigue.
Zeiten und Völker, Band 1 bis 4. Berlin, V. Hertz, 1873—78.
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