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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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auch nur das Mittel um die eine Seite der Medaille, die Stadt Paris, im
Gegensatz zu ihrer Bevölkerung zu zeigen und damit der Frage näher zu
treten, ob mau mehr berechtigt sei, Paris "das Haupt und Gehirn der Mensch¬
heit" zu nennen, oder von Paris zu reden als dem "Freudenhaus und der
Kloake der Welt". "Ich glaube, sie haben Beide recht," meint Nordau. Es
kommt nur darauf an, auf welchen Standpunkt der Beurtheilung man sich
stellt, und was man unter dem Begriffe "Paris" versteht. Man sollte einen
Unterschied zwischen der Stadt und der Bevölkerung machen; die erstere ist
das Wesentliche, die letztere das Zufällige; die Stadt ist das Dauernde, die
Bevölkerung das Wechselnde." Und in seinen später folgenden Studien über
die Pariser Bevölkerung ist Nordau durchaus originell. "Drehen wir aber
die Sache um," sagt er da -- nachdem er Paris "das Mekka der Menschheit,
das große Hauptarchiv der Zivilisation und der meisten unserer modernen Er¬
rungenschaften" in großen Zügen geschildert hat -- "und fragen, ob auch die
Bevölkerung von Paris, aus dieser klassischen Umgebung herausgehoben, und
in einen andern Rahmen gefaßt, noch immer wäre, was sie heute ist, oder
mindestens, wofür sie von manchen oberflächlichen Beurtheilern gehalten wird
und wir werden zu einem eigenthümlich verschiedenen Resultate gelangen."

"Ich weiß, daß man den Parisern in frühern Jahrhunderten nachgerühmt
hat, daß sie geistreiche, liebenswürdige, leichtbewegliche, kindlich heitere und gut¬
müthige Menschen seien. Man nehme diese Beschreibungen zur Hand, und wan¬
dere, ein neuer Diogenes, von der Porte Mnillot bis zur Place du TrSne,
um die Person zu finden, auf die sie paßt! Man wird seine Zeit verlieren
wie Diogenes die seine verloren hat. Der Pariser, den ich stündlich vor mir
sehe, und den ich kenne, ist das Gegentheil von Alledem." Der Pariser ist
nach Nordau uicht dümmer, als der Durchschnittsmensch der Gegenwart ge¬
wöhnlich ist, aber auch uicht klüger. Die Liebenswürdigkeit des Parisers hat
etwas von der unangenehm offiziellen Zuvorkommenheit des Kellners, die nach
dem Trinkgeld schreit, sie erwärmt uus uicht, weil sie uus nicht individuell
zugewendet wird, sie ist so allgemein und unpersönlich wie die landesväterliche
Liebe zu deu Unterthanen. An einer viel späteren Stelle des Buches, bei der
Schilderung der Pariser Käse's, wird diese Art von Liebenswürdigkeit sehr
hübsch eingehender auf ihren gemüthlichen Gehalt geprüft. Dort kommt der
Verfasser zu dem Resultat, daß der Fremde und Einheimische mit Leichtigkeit
in jedem Käse mit einem ihm wildfremden Pariser in ein interessantes Gespräch
sich einlassen könne; ja bei täglicher Unterredung mit demselben Manne könne
sich allmälig eine bis zum Dn-Kvmment steigende Vertraulichkeit entwickeln
kein Gebiet allgemeiner Interessen bleibe möglicherweise unberührt -- und den¬
noch werde der Pariser im Grunde seines Herzens gegen den Andern immer


auch nur das Mittel um die eine Seite der Medaille, die Stadt Paris, im
Gegensatz zu ihrer Bevölkerung zu zeigen und damit der Frage näher zu
treten, ob mau mehr berechtigt sei, Paris „das Haupt und Gehirn der Mensch¬
heit" zu nennen, oder von Paris zu reden als dem „Freudenhaus und der
Kloake der Welt". „Ich glaube, sie haben Beide recht," meint Nordau. Es
kommt nur darauf an, auf welchen Standpunkt der Beurtheilung man sich
stellt, und was man unter dem Begriffe „Paris" versteht. Man sollte einen
Unterschied zwischen der Stadt und der Bevölkerung machen; die erstere ist
das Wesentliche, die letztere das Zufällige; die Stadt ist das Dauernde, die
Bevölkerung das Wechselnde." Und in seinen später folgenden Studien über
die Pariser Bevölkerung ist Nordau durchaus originell. „Drehen wir aber
die Sache um," sagt er da — nachdem er Paris „das Mekka der Menschheit,
das große Hauptarchiv der Zivilisation und der meisten unserer modernen Er¬
rungenschaften" in großen Zügen geschildert hat — „und fragen, ob auch die
Bevölkerung von Paris, aus dieser klassischen Umgebung herausgehoben, und
in einen andern Rahmen gefaßt, noch immer wäre, was sie heute ist, oder
mindestens, wofür sie von manchen oberflächlichen Beurtheilern gehalten wird
und wir werden zu einem eigenthümlich verschiedenen Resultate gelangen."

„Ich weiß, daß man den Parisern in frühern Jahrhunderten nachgerühmt
hat, daß sie geistreiche, liebenswürdige, leichtbewegliche, kindlich heitere und gut¬
müthige Menschen seien. Man nehme diese Beschreibungen zur Hand, und wan¬
dere, ein neuer Diogenes, von der Porte Mnillot bis zur Place du TrSne,
um die Person zu finden, auf die sie paßt! Man wird seine Zeit verlieren
wie Diogenes die seine verloren hat. Der Pariser, den ich stündlich vor mir
sehe, und den ich kenne, ist das Gegentheil von Alledem." Der Pariser ist
nach Nordau uicht dümmer, als der Durchschnittsmensch der Gegenwart ge¬
wöhnlich ist, aber auch uicht klüger. Die Liebenswürdigkeit des Parisers hat
etwas von der unangenehm offiziellen Zuvorkommenheit des Kellners, die nach
dem Trinkgeld schreit, sie erwärmt uus uicht, weil sie uus nicht individuell
zugewendet wird, sie ist so allgemein und unpersönlich wie die landesväterliche
Liebe zu deu Unterthanen. An einer viel späteren Stelle des Buches, bei der
Schilderung der Pariser Käse's, wird diese Art von Liebenswürdigkeit sehr
hübsch eingehender auf ihren gemüthlichen Gehalt geprüft. Dort kommt der
Verfasser zu dem Resultat, daß der Fremde und Einheimische mit Leichtigkeit
in jedem Käse mit einem ihm wildfremden Pariser in ein interessantes Gespräch
sich einlassen könne; ja bei täglicher Unterredung mit demselben Manne könne
sich allmälig eine bis zum Dn-Kvmment steigende Vertraulichkeit entwickeln
kein Gebiet allgemeiner Interessen bleibe möglicherweise unberührt — und den¬
noch werde der Pariser im Grunde seines Herzens gegen den Andern immer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/264>, abgerufen am 27.07.2024.