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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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reservirt und kalt bleiben, ihn z. B. nie über die Schwelle seines Hauses, in
seine Familie einführen. Auch die Heiterkeit des Parisers hat nach Nordciu
eine starke Beimischung von Bosheit und Plattitüde, beinahe von Gassenjungen¬
haftem, und "was endlich die Gutmüthigkeit des Parisers betrifft, so hat ihn
dieselbe nicht verhindert, in der großen Revolution im Juni 1848 und noch
zuletzt während der Kommune recht garstige Dinge an Greisen, Frauen und
Kindern zu verüben."

Den Widerspruch zwischen den Schilderungen, welche ältere Reisende vor
fünfzig, vierzig, dreißig Jahre" von dem Pariser entworfen haben, und seinem
wirklichen Charakterbild von heute erklärt der Verfasser an der raschen und
Progressiv wachsenden Durchsetzung der autochthonen Bevölkerung mit fremd¬
artigen Elementen. "Von den 1,980,000 Menschen, die nach der neuesten
Volkszählung innerhalb der Wälle von Paris leben, ist schwerlich die Hälfte
hier geboren: von kaum einem Achtel waren beide Eltern geborene Pariser
und ich zweifle, ob man in Paris 10,000 Individuen finden wird, deren Vor¬
fahren durch drei Generationen väterlicher und mütterlicherseits echte Pariser
gewesen sind." Wir halten diese Beweisführung für wenig überzeugend. Denn
die Voraussetzung ihrer Richtigkeit ist doch zunächst, daß zu der Zeit, als jene
älteren Reisenden ihre Beobachtungen niederschrieben, in Paris eine fast un¬
gemischte Bevölkerung echter Pariser Kinder seßhaft gewesen sei. Dafür bringt
der Verfasser absolut keine Beweise bei und kann es auch nicht. Denn schon
damals ist Paris der große Magnet gewesen, der alle Glücksjäger ans dem weiten
Frankreich, und einigen mehr oder weniger angrenzenden Ländern, jedenfalls alle
hervorragend guten und schlechten Elemente der Nation unwiderstehlich anzog.
Wieviele vou den großen Namen, die etwa heute vor vierzig, fünfzig Jahren
in Paris glänzten, sind denn am Ufer der Seine in der alten Lntetia geboren?
Kaum ein Einziger; und so konnte bis in's Einzelste nachgewiesen werden,
daß das Zahlenexempel, das der Verfasser für unsre Gegenwart aufstellt, um
das Verhältniß der zuströmenden Glücksjäger zu der eingesessener Bevölkerung
zu beweisen, schon vor fünfzig Jahren etwa dieselben Proportionen, zu Anfang
des Jahrhunderts fast noch ungünstigere zeigte. Die Wandlung des Pariser
Volkscharakters liegt daher unseres Erachtens noch in anderen Ursachen, als
denen der steten Invasion gemeiner Streber: in dem Wandel der Zeiten, d. h.
in dem Erlöschen des Idealismus, der in deu zwanziger Jahren des Jahr¬
hunderts nicht blos die Jugend, sondern das gesammte Bürgerthum der Haupt¬
stadt erfüllte, da es damals noch um seine heiligsten Rechte und Errungen¬
schaften mit der Restauration von Feindesguaden kämpfte; in der Erschütterung
der nationalen Zucht und Pietät, welche so häufige und gewaltsame Staats-
umwälzungen unausbleiblich mit sich führen; in der ungeheuren sittlichen Ver-


reservirt und kalt bleiben, ihn z. B. nie über die Schwelle seines Hauses, in
seine Familie einführen. Auch die Heiterkeit des Parisers hat nach Nordciu
eine starke Beimischung von Bosheit und Plattitüde, beinahe von Gassenjungen¬
haftem, und „was endlich die Gutmüthigkeit des Parisers betrifft, so hat ihn
dieselbe nicht verhindert, in der großen Revolution im Juni 1848 und noch
zuletzt während der Kommune recht garstige Dinge an Greisen, Frauen und
Kindern zu verüben."

Den Widerspruch zwischen den Schilderungen, welche ältere Reisende vor
fünfzig, vierzig, dreißig Jahre« von dem Pariser entworfen haben, und seinem
wirklichen Charakterbild von heute erklärt der Verfasser an der raschen und
Progressiv wachsenden Durchsetzung der autochthonen Bevölkerung mit fremd¬
artigen Elementen. „Von den 1,980,000 Menschen, die nach der neuesten
Volkszählung innerhalb der Wälle von Paris leben, ist schwerlich die Hälfte
hier geboren: von kaum einem Achtel waren beide Eltern geborene Pariser
und ich zweifle, ob man in Paris 10,000 Individuen finden wird, deren Vor¬
fahren durch drei Generationen väterlicher und mütterlicherseits echte Pariser
gewesen sind." Wir halten diese Beweisführung für wenig überzeugend. Denn
die Voraussetzung ihrer Richtigkeit ist doch zunächst, daß zu der Zeit, als jene
älteren Reisenden ihre Beobachtungen niederschrieben, in Paris eine fast un¬
gemischte Bevölkerung echter Pariser Kinder seßhaft gewesen sei. Dafür bringt
der Verfasser absolut keine Beweise bei und kann es auch nicht. Denn schon
damals ist Paris der große Magnet gewesen, der alle Glücksjäger ans dem weiten
Frankreich, und einigen mehr oder weniger angrenzenden Ländern, jedenfalls alle
hervorragend guten und schlechten Elemente der Nation unwiderstehlich anzog.
Wieviele vou den großen Namen, die etwa heute vor vierzig, fünfzig Jahren
in Paris glänzten, sind denn am Ufer der Seine in der alten Lntetia geboren?
Kaum ein Einziger; und so konnte bis in's Einzelste nachgewiesen werden,
daß das Zahlenexempel, das der Verfasser für unsre Gegenwart aufstellt, um
das Verhältniß der zuströmenden Glücksjäger zu der eingesessener Bevölkerung
zu beweisen, schon vor fünfzig Jahren etwa dieselben Proportionen, zu Anfang
des Jahrhunderts fast noch ungünstigere zeigte. Die Wandlung des Pariser
Volkscharakters liegt daher unseres Erachtens noch in anderen Ursachen, als
denen der steten Invasion gemeiner Streber: in dem Wandel der Zeiten, d. h.
in dem Erlöschen des Idealismus, der in deu zwanziger Jahren des Jahr¬
hunderts nicht blos die Jugend, sondern das gesammte Bürgerthum der Haupt¬
stadt erfüllte, da es damals noch um seine heiligsten Rechte und Errungen¬
schaften mit der Restauration von Feindesguaden kämpfte; in der Erschütterung
der nationalen Zucht und Pietät, welche so häufige und gewaltsame Staats-
umwälzungen unausbleiblich mit sich führen; in der ungeheuren sittlichen Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/265>, abgerufen am 27.07.2024.