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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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eine Unmasse der gröbsten sprachlichsten und stilistischen Verstöße geduldig hin¬
nimmt. Denn für die Masse sind diese größtentheils feinen Beobachtungen
nicht geschrieben. Und der Kreis, an den sie sich vorzugsweise wenden, wird durch
die jetzt vorliegende sprachliche Form immer verstimmt bleiben.

Ein größerer Fehler aber, der kaum auszumerzen sein wird, der mit der
Beobachtungs- und Bildungsart des Verfassers zusammenhängt, ja mit seiner
Weltanschauung, ist sein Mangel an wirklich historischem Sinn. Man braucht
nur das einzige Kapitel "das Grab Napoleon's" zu lesen, um dafür die
stärksten Beweise zu erhalten. Völlig verloren für den Verfasser scheinen die
reichen, aus eine weit längere und gründlichere Beobachtung des französischen
Volkes -- als sie dem Verfasser beschieden war -- und eine wirklich histo¬
rische Auffassung gegründeten Forschungen unsres Karl Hillebrand. Wer
so wie der Verfasser urtheilt über Karl X, und Louis Philipp in seinem
Kapitel über das Quartier Ladin, so über den Kartätschenhagel der Rue Transnonain
wie er in seinem Kapitel "Belleville", so über Thiers und Lanfrey, Napoleon I.
und III. wie er im "Grab Napoleon's", ist noch nicht weit hinausgekommen
über die mythenbildende, phrasenhafte Geschichtserzählung der Pariser Klubs oder
Boulevards. Auf der einen Seite gewinnen wir aus dieser harmlosen, mit der
Auffassung der Pariser Bevölkerung beinahe Schritt haltenden Erkenntniß der
wirklichen Geschichte, die Ueberzeugung, daß der Verfasser gewiß nichts berichtet,
was den Traditionen des Parisers zuwiderläuft. Andererseits aber erfüllt uns diese
Art von historischer Auffassung doch mit gerechtem Zweifel, ob er zu seinen
so oft angestellten Versuchen zu geschichtlicher Betrachtung genügend vorbereitet,
ausreichend kritisch geschult sei. Dieser Zweifel wirft dann nicht selten seine
Reflexe in Gestalt von bedenklichen Fragezeichen auf das, was er genau zu
kennen und zu schildern vielleicht berufen ist. Endlich ist die Arbeit auch nicht
frei von auffallenden Widersprüchen, die sich wohl nur daraus erklären, daß hier,
ohne nochmalige eingehende Prüfung und Feile zu verschiedenen Zeiten Entstan¬
denes in Eins zusammengearbeitet worden ist. Dahin gehört z. B. das Ende
des Abschnittes über das Quartier Ladin im Vergleich zu dem Anfang der Schilde¬
rung von Belleville. Dort wurde uns versichert, das alte historische Quartier
Ladin, wie es vor einem Menschenalter bestand, sei heutzutage von Grund
aus verwandelt, und hier ist es auf einmal wieder "die gelächter- und gesang¬
erfüllte große Studentenherberge".

Aber wenn wir uns auch vorbehalten, einige dieser jedem prüfenden Leser
in die Augen fallenden Mängel des Werkes gelegentlich mit Beispielen ein¬
gehender zu belegen, so wiederholen wir doch, daß sie die Vorzüge des Buches
nicht überragen, daß der Verfasser für den größten Theil seiner Abhandlungen
die volle Sachkenntniß besitzt, daß er höchst mannigfaltige und höchst charakte-


eine Unmasse der gröbsten sprachlichsten und stilistischen Verstöße geduldig hin¬
nimmt. Denn für die Masse sind diese größtentheils feinen Beobachtungen
nicht geschrieben. Und der Kreis, an den sie sich vorzugsweise wenden, wird durch
die jetzt vorliegende sprachliche Form immer verstimmt bleiben.

Ein größerer Fehler aber, der kaum auszumerzen sein wird, der mit der
Beobachtungs- und Bildungsart des Verfassers zusammenhängt, ja mit seiner
Weltanschauung, ist sein Mangel an wirklich historischem Sinn. Man braucht
nur das einzige Kapitel „das Grab Napoleon's" zu lesen, um dafür die
stärksten Beweise zu erhalten. Völlig verloren für den Verfasser scheinen die
reichen, aus eine weit längere und gründlichere Beobachtung des französischen
Volkes — als sie dem Verfasser beschieden war — und eine wirklich histo¬
rische Auffassung gegründeten Forschungen unsres Karl Hillebrand. Wer
so wie der Verfasser urtheilt über Karl X, und Louis Philipp in seinem
Kapitel über das Quartier Ladin, so über den Kartätschenhagel der Rue Transnonain
wie er in seinem Kapitel „Belleville", so über Thiers und Lanfrey, Napoleon I.
und III. wie er im „Grab Napoleon's", ist noch nicht weit hinausgekommen
über die mythenbildende, phrasenhafte Geschichtserzählung der Pariser Klubs oder
Boulevards. Auf der einen Seite gewinnen wir aus dieser harmlosen, mit der
Auffassung der Pariser Bevölkerung beinahe Schritt haltenden Erkenntniß der
wirklichen Geschichte, die Ueberzeugung, daß der Verfasser gewiß nichts berichtet,
was den Traditionen des Parisers zuwiderläuft. Andererseits aber erfüllt uns diese
Art von historischer Auffassung doch mit gerechtem Zweifel, ob er zu seinen
so oft angestellten Versuchen zu geschichtlicher Betrachtung genügend vorbereitet,
ausreichend kritisch geschult sei. Dieser Zweifel wirft dann nicht selten seine
Reflexe in Gestalt von bedenklichen Fragezeichen auf das, was er genau zu
kennen und zu schildern vielleicht berufen ist. Endlich ist die Arbeit auch nicht
frei von auffallenden Widersprüchen, die sich wohl nur daraus erklären, daß hier,
ohne nochmalige eingehende Prüfung und Feile zu verschiedenen Zeiten Entstan¬
denes in Eins zusammengearbeitet worden ist. Dahin gehört z. B. das Ende
des Abschnittes über das Quartier Ladin im Vergleich zu dem Anfang der Schilde¬
rung von Belleville. Dort wurde uns versichert, das alte historische Quartier
Ladin, wie es vor einem Menschenalter bestand, sei heutzutage von Grund
aus verwandelt, und hier ist es auf einmal wieder „die gelächter- und gesang¬
erfüllte große Studentenherberge".

Aber wenn wir uns auch vorbehalten, einige dieser jedem prüfenden Leser
in die Augen fallenden Mängel des Werkes gelegentlich mit Beispielen ein¬
gehender zu belegen, so wiederholen wir doch, daß sie die Vorzüge des Buches
nicht überragen, daß der Verfasser für den größten Theil seiner Abhandlungen
die volle Sachkenntniß besitzt, daß er höchst mannigfaltige und höchst charakte-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/262>, abgerufen am 27.07.2024.