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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Darum ist zu hoffen, daß mit der Anerkennung des Gesetzes der Apper-
ception, mit der Beherzigung der Thatsache, daß jede Anschauung eine synthe¬
tische That des Geistes ist, der voreiligen Metaphysik, wie dem sogen, em¬
pirischen Wissen mehr und mehr der Boden entzogen werde. Denn die
Erkenntniß, daß trotz der Nothwendigkeit der Empfindungen doch die Art und
Vollständigkeit ihrer Synthese dnrch den freithütigen Geist das Bestimmende
sei, wird vorsichtig machen in der Verwechslung von Anschanung und Sache,
wird antreiben, durch stets neue Erforschung der Wirkungen und Leistungen der
Dinge die Synthese ihrer Anschanung zu ergänzen oder die Natur der Dinge
vollständiger zu erkennen.

Diese Gewißheit, daß selbst die einfachste Anschauung das Produkt syn¬
thetischer Geisteskraft sei, muß aber, ich hoffe es, auch ein Vorurtheil beseitigen
das seit der ältesten Zeit die freie Ausbildung der Erkenntnißlehre hemmte.
Die Griechen lehrten, daß die Vernunft das Unsinnliche erkenne, die unterge¬
ordnete Seele das Sinnliche; das Mittelalter lehrte, die Vernunft erkenne das
Sinnliche, der Glaube das Unsinnliche; ähnlich lehrte Kant, die reine Vernunft
erkenne und wisse nur das Sinnliche, das Unsinnliche aber sei Forderung der
praktischen Vernunft, also Sache des Glaubens. Alle diese Lehren stimmen
darin überein, daß sie ein zweifaches Wissen in der Seele annehmen, ein sinn¬
liches für die Wochentage und ein unsinnliches für die Sonntage. Wenn aber
nun, oder vielmehr weil aber nun schon die einfachste, aus unmittelbarster
Nerventhätigkeit gewonnene Anschauung das Produkt einer Synthese der Seele
ist, so ist klar, daß überhaupt nichts Sinnliches in der Seele ist, was von ihr
denkend bewegt wird. Jede Anschauung der Seele ist ein unsinnliches, nicht
wirklich so existirendes, eben weil sie nur eine synthetische That der Seele, nur
eine Apperception existirenden Dinges ist. So heißt z. B. nichts unbezweisel-
varer, als daß Gott etwas Unsinnliches, die Materie etwas Sinnliches sei.
Aber doch empfangen wir Menschen nur individualisirte Nervenerregungen
durch Eisen, Holz, Fleisch, Lust, Erde u. s. w. und nur durch die synthetische
Thätigkeit unseres appercipirenden Geistes gewinnen wir aus diesen einzelnen
Empfindungen die Anschauung oder die Vorstellung einer Materie im Allge¬
meinen. Es ist daher gewiß, weil wir nur individualisirte Materien empfin¬
den, daß die Anschauung einer individualitätslosen, einer allgemeinen Materie
nur gerade so viel Sinnliches in sich besitzt, als die Anschauung einer allge¬
meinen oder Endursache, die wir aus einer Vielheit individueller Ursachen
synthetisch erschließen. Und dieselbe synthetische Thätigkeit des Geistes, welche
im Laufe der Zeit begründet und feststellt, in welcher Form die sogen. Materie
gedacht werden muß, dieselbe synthetische Thätigkeit stellt fest, wie die End¬
ursache oder Gott gedacht werden müsse. Aber auf Grund der Thatsache des
Gewissens, auf die selbst Kant die Existenz eines sittlichen Gottes begründete,


Darum ist zu hoffen, daß mit der Anerkennung des Gesetzes der Apper-
ception, mit der Beherzigung der Thatsache, daß jede Anschauung eine synthe¬
tische That des Geistes ist, der voreiligen Metaphysik, wie dem sogen, em¬
pirischen Wissen mehr und mehr der Boden entzogen werde. Denn die
Erkenntniß, daß trotz der Nothwendigkeit der Empfindungen doch die Art und
Vollständigkeit ihrer Synthese dnrch den freithütigen Geist das Bestimmende
sei, wird vorsichtig machen in der Verwechslung von Anschanung und Sache,
wird antreiben, durch stets neue Erforschung der Wirkungen und Leistungen der
Dinge die Synthese ihrer Anschanung zu ergänzen oder die Natur der Dinge
vollständiger zu erkennen.

Diese Gewißheit, daß selbst die einfachste Anschauung das Produkt syn¬
thetischer Geisteskraft sei, muß aber, ich hoffe es, auch ein Vorurtheil beseitigen
das seit der ältesten Zeit die freie Ausbildung der Erkenntnißlehre hemmte.
Die Griechen lehrten, daß die Vernunft das Unsinnliche erkenne, die unterge¬
ordnete Seele das Sinnliche; das Mittelalter lehrte, die Vernunft erkenne das
Sinnliche, der Glaube das Unsinnliche; ähnlich lehrte Kant, die reine Vernunft
erkenne und wisse nur das Sinnliche, das Unsinnliche aber sei Forderung der
praktischen Vernunft, also Sache des Glaubens. Alle diese Lehren stimmen
darin überein, daß sie ein zweifaches Wissen in der Seele annehmen, ein sinn¬
liches für die Wochentage und ein unsinnliches für die Sonntage. Wenn aber
nun, oder vielmehr weil aber nun schon die einfachste, aus unmittelbarster
Nerventhätigkeit gewonnene Anschauung das Produkt einer Synthese der Seele
ist, so ist klar, daß überhaupt nichts Sinnliches in der Seele ist, was von ihr
denkend bewegt wird. Jede Anschauung der Seele ist ein unsinnliches, nicht
wirklich so existirendes, eben weil sie nur eine synthetische That der Seele, nur
eine Apperception existirenden Dinges ist. So heißt z. B. nichts unbezweisel-
varer, als daß Gott etwas Unsinnliches, die Materie etwas Sinnliches sei.
Aber doch empfangen wir Menschen nur individualisirte Nervenerregungen
durch Eisen, Holz, Fleisch, Lust, Erde u. s. w. und nur durch die synthetische
Thätigkeit unseres appercipirenden Geistes gewinnen wir aus diesen einzelnen
Empfindungen die Anschauung oder die Vorstellung einer Materie im Allge¬
meinen. Es ist daher gewiß, weil wir nur individualisirte Materien empfin¬
den, daß die Anschauung einer individualitätslosen, einer allgemeinen Materie
nur gerade so viel Sinnliches in sich besitzt, als die Anschauung einer allge¬
meinen oder Endursache, die wir aus einer Vielheit individueller Ursachen
synthetisch erschließen. Und dieselbe synthetische Thätigkeit des Geistes, welche
im Laufe der Zeit begründet und feststellt, in welcher Form die sogen. Materie
gedacht werden muß, dieselbe synthetische Thätigkeit stellt fest, wie die End¬
ursache oder Gott gedacht werden müsse. Aber auf Grund der Thatsache des
Gewissens, auf die selbst Kant die Existenz eines sittlichen Gottes begründete,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/187>, abgerufen am 01.09.2024.