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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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oder arm, werthvoll oder werthlos sein kann, je nachdem sie mit viel oder
wenig Empfindungsmomenten geschah; klar ist, daß diese Synthese verschiedene
Form gewinnen muß, je nach der individuellen Beschaffenheit der zusammen¬
fassenden Seele; sie wird bei einer Hausfrau, einem Fabrikanten, einem Kauf¬
mann ganz verschiedene Bilder oder Wahrnehmungen beim Anblick von Zucker
erzeugen. Somit ist die Seele nicht bloß eine synthetische Kraft, sondern ein
in jeder Synthese individuell wirkendes Wesen. Diese Thatsache ist es, welche
Lazarus wissenschaftlich begründend Apperception nennt. "Insofern der psychische
Prozeß in der Ausfassung der Außenwelt, wie der einfachen Empfindungen
Perzeption genannt wird, so ist Apperception die Reaktion der von In¬
halt bereits erfüllten, durch die früheren Prozesse seiner Erzeugung aus¬
gebildeten Seele. Die reine Perzeption durch die von keinerlei Inhalt er¬
füllte Seele ist eine bloße Abstraktion, die kaum im neugeborenen Kinde Wirk¬
lichkeit hat." (S. 42.)

Da könnte man fragen, wenn schon die einfachste Anschauung eine Syn¬
these ist, die auf Grund einzelner Empfindungen von einer individuell be¬
stimmten Seele geschah, hat es dann noch Werth mit Kant zu sagen, die Seele
ist durch ihr synthetisches Vermögen eine Wahrheit erringende Kraft? Gewinnen
damit nicht wieder die alten Sophisten Recht, welche sagten, es seien nur indi¬
viduelle, subjektive Ansichten möglich? Lazarus spricht ebenfalls von den
Sophisten und ihrer durch Sokrates erfolgten Zurechtweisung, aber er spricht
erst gegen Ende seiner Schrift, S. 377 ff., davon. Da es aber unmöglich ist,
den ganzen Inhalts seines Buches zu referiren, so erscheint es zweckmäßig zu
zeigen, wie schon an die Bildung einfachster Wahrnehmungen, oder gleichsam
an die unterste Erkenntnißstufe sich die höchsten Fragen knüpfen. So dürfen
wir schon auf Grund der aus den Empfindungen gewonnenen Anschauungen
sagen: Wahrheit und Wissenschaft ist möglich, da es möglich ist die Anschau¬
ungen, z. B. der Hausfrauen, Fabrikanten, Kaufleute zu prüfen, von subjek¬
tiven Täuschungen zu reinigen und wechselseitig zu ergänzen. Die gesammte
Wissenschaft erscheint hiernach als eine freithätig gewonnene, systematisch ge¬
ordnete Darstellung des durch vielerlei Einzelempfindungen Wahrgenommenen.
Es ist ferner klar, daß schon auf dieser Stufe voreilige Metaphysik möglich
ist, weil unvollständige Apperceptionen für vollständige angesehen und die Dinge
der Natur nach diesen falschen Anschauungen erklärt werden. Ja es ist sogar
Kar, wie eine voreilige Metaphysik gerade auf dieser Stufe am selbstgewissesten
auftreten und sogar die mühsame Klärung der Vorstellungen, sowie die logische
Ausbildung der Begriffe verächtlich ansehen kann, da jeder Einzelne damit
prunkt, daß er auf dem Boden der Empirie, der unmittelbaren Em¬
pfindung süße.


oder arm, werthvoll oder werthlos sein kann, je nachdem sie mit viel oder
wenig Empfindungsmomenten geschah; klar ist, daß diese Synthese verschiedene
Form gewinnen muß, je nach der individuellen Beschaffenheit der zusammen¬
fassenden Seele; sie wird bei einer Hausfrau, einem Fabrikanten, einem Kauf¬
mann ganz verschiedene Bilder oder Wahrnehmungen beim Anblick von Zucker
erzeugen. Somit ist die Seele nicht bloß eine synthetische Kraft, sondern ein
in jeder Synthese individuell wirkendes Wesen. Diese Thatsache ist es, welche
Lazarus wissenschaftlich begründend Apperception nennt. „Insofern der psychische
Prozeß in der Ausfassung der Außenwelt, wie der einfachen Empfindungen
Perzeption genannt wird, so ist Apperception die Reaktion der von In¬
halt bereits erfüllten, durch die früheren Prozesse seiner Erzeugung aus¬
gebildeten Seele. Die reine Perzeption durch die von keinerlei Inhalt er¬
füllte Seele ist eine bloße Abstraktion, die kaum im neugeborenen Kinde Wirk¬
lichkeit hat." (S. 42.)

Da könnte man fragen, wenn schon die einfachste Anschauung eine Syn¬
these ist, die auf Grund einzelner Empfindungen von einer individuell be¬
stimmten Seele geschah, hat es dann noch Werth mit Kant zu sagen, die Seele
ist durch ihr synthetisches Vermögen eine Wahrheit erringende Kraft? Gewinnen
damit nicht wieder die alten Sophisten Recht, welche sagten, es seien nur indi¬
viduelle, subjektive Ansichten möglich? Lazarus spricht ebenfalls von den
Sophisten und ihrer durch Sokrates erfolgten Zurechtweisung, aber er spricht
erst gegen Ende seiner Schrift, S. 377 ff., davon. Da es aber unmöglich ist,
den ganzen Inhalts seines Buches zu referiren, so erscheint es zweckmäßig zu
zeigen, wie schon an die Bildung einfachster Wahrnehmungen, oder gleichsam
an die unterste Erkenntnißstufe sich die höchsten Fragen knüpfen. So dürfen
wir schon auf Grund der aus den Empfindungen gewonnenen Anschauungen
sagen: Wahrheit und Wissenschaft ist möglich, da es möglich ist die Anschau¬
ungen, z. B. der Hausfrauen, Fabrikanten, Kaufleute zu prüfen, von subjek¬
tiven Täuschungen zu reinigen und wechselseitig zu ergänzen. Die gesammte
Wissenschaft erscheint hiernach als eine freithätig gewonnene, systematisch ge¬
ordnete Darstellung des durch vielerlei Einzelempfindungen Wahrgenommenen.
Es ist ferner klar, daß schon auf dieser Stufe voreilige Metaphysik möglich
ist, weil unvollständige Apperceptionen für vollständige angesehen und die Dinge
der Natur nach diesen falschen Anschauungen erklärt werden. Ja es ist sogar
Kar, wie eine voreilige Metaphysik gerade auf dieser Stufe am selbstgewissesten
auftreten und sogar die mühsame Klärung der Vorstellungen, sowie die logische
Ausbildung der Begriffe verächtlich ansehen kann, da jeder Einzelne damit
prunkt, daß er auf dem Boden der Empirie, der unmittelbaren Em¬
pfindung süße.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/186>, abgerufen am 01.09.2024.