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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Erscheinungen, seien sie geistige oder körperliche gegenüberstehen, und wo es aus
ihnen die Bedingungen und Gesetze ihres Geschehens und Wirkens, somit ihre
Natur, d. h. die Bestimmtheit der Art und Weise ihres Seins und Werdens
aussticht.

Von diesem Boden aus untersucht denn Lazarus nach einer Einleitung,
worin er den Gang seiner Entwicklung darlegt, I. Die Wechselwirkung
zwischen Seele und Leib. Aber da er auf seinem naturwissenschaftlichen
Boden nur das thatsächlich Erscheinende erforschen will, so erspart er uns
glücklicherweise jene beliebten Spekulationen, wie solche Wechselwirkung denkbar
möglich sei. Spekulationen, welche immer nur liefern, was man beabsichtigte
und was aus der voreiligen Apperception, je nachdem man die Seele materiell
oder die Materie geistig auffaßt, folgt. Er sucht daher festzustellen, was geistige
Wirkung und was leibliche Wirkung sei, und die Berechtigung zu solchem Ver¬
fahren wird kein Naturforscher Schreiten, seit die physiologischen Untersuchungen
von Helmholtz feststellten, daß bei den Empfindungen ein subjektives Moment
nicht blos passiv, sondern aktiv mitwirke. So ist denn für Lazarus die Seele
(S. 34) keine bloße theoretische Spiegelfläche, noch auch eine rein malerische,
Bilder entwerfende Kraft. Vielmehr findet zwischen der Art und Stärke der
Sinnesreize und der Art und Stärke der psychischen Reaktion ein gesetzmäßiges
Verhältniß statt. Keineswegs aber ist der Prozeß der Erkenntniß durch die
Sinne so einfach, wie man gewöhnlich meint; es wird nicht einfach das
äußere sinnliche Bild in ein inneres Anschauungsbild verwandelt. Denn es
sind nur einfache Empfindungen, aus denen die Anfänge unserer psychischen
Thätigkeit bestehen, während die Gegenstände und Erscheinungen, die wir wahr¬
nehmen, nicht einfach, sondern ans einer Menge von Empfindungen zusammen¬
gesetzt sind. Z. B. der Zucker erscheint uns hart, weiß, schwer, süß u. s. w.,
weil er im Gefühls-, Geschmacks-, Gesichtsnerven verschiedene Empfindungen
veranlaßt. Diese Zusammenfassung nun mehrerer verschiedener Empfindungen
zur Einheit innerer Wahrnehmung ist ein zweiter psychischer Akt, der sich an
die Einzelempfindungen anlehnt; aber anch von diesem zweiten Akt und seiner
Sonderung haben wir in unserer unmittelbaren Erfahrung kein Bewußtsein.
Wir wenden das Auge und sehen: Hier ist ein Baum, hier ein Haus, eine
Uhr, die schlägt u. s. w. Man hält dies Alles für einen einheitlichen Vor¬
gang, aber doch sind wesentlich zwei Theile zu unterscheiden: die Physische Er¬
regung und die psychische Auffassung. (S. 35. 39.)

Kant's Ruhm ist es, bewiesen zu haben, daß in dem synthetischen
Vermögen der Seele ihre Wahrheit erringende Kraft liege. Die psychologische
Betrachtung zeigt nun, daß solche Synthese schon bei der einfachsten psy¬
chischen Thätigkeit geschieht, da sie aus einer Summe von Erregungen eine
einheitliche Wahrnehmung bildet. Nun ist aber klar, daß diese Synthese reich


Erscheinungen, seien sie geistige oder körperliche gegenüberstehen, und wo es aus
ihnen die Bedingungen und Gesetze ihres Geschehens und Wirkens, somit ihre
Natur, d. h. die Bestimmtheit der Art und Weise ihres Seins und Werdens
aussticht.

Von diesem Boden aus untersucht denn Lazarus nach einer Einleitung,
worin er den Gang seiner Entwicklung darlegt, I. Die Wechselwirkung
zwischen Seele und Leib. Aber da er auf seinem naturwissenschaftlichen
Boden nur das thatsächlich Erscheinende erforschen will, so erspart er uns
glücklicherweise jene beliebten Spekulationen, wie solche Wechselwirkung denkbar
möglich sei. Spekulationen, welche immer nur liefern, was man beabsichtigte
und was aus der voreiligen Apperception, je nachdem man die Seele materiell
oder die Materie geistig auffaßt, folgt. Er sucht daher festzustellen, was geistige
Wirkung und was leibliche Wirkung sei, und die Berechtigung zu solchem Ver¬
fahren wird kein Naturforscher Schreiten, seit die physiologischen Untersuchungen
von Helmholtz feststellten, daß bei den Empfindungen ein subjektives Moment
nicht blos passiv, sondern aktiv mitwirke. So ist denn für Lazarus die Seele
(S. 34) keine bloße theoretische Spiegelfläche, noch auch eine rein malerische,
Bilder entwerfende Kraft. Vielmehr findet zwischen der Art und Stärke der
Sinnesreize und der Art und Stärke der psychischen Reaktion ein gesetzmäßiges
Verhältniß statt. Keineswegs aber ist der Prozeß der Erkenntniß durch die
Sinne so einfach, wie man gewöhnlich meint; es wird nicht einfach das
äußere sinnliche Bild in ein inneres Anschauungsbild verwandelt. Denn es
sind nur einfache Empfindungen, aus denen die Anfänge unserer psychischen
Thätigkeit bestehen, während die Gegenstände und Erscheinungen, die wir wahr¬
nehmen, nicht einfach, sondern ans einer Menge von Empfindungen zusammen¬
gesetzt sind. Z. B. der Zucker erscheint uns hart, weiß, schwer, süß u. s. w.,
weil er im Gefühls-, Geschmacks-, Gesichtsnerven verschiedene Empfindungen
veranlaßt. Diese Zusammenfassung nun mehrerer verschiedener Empfindungen
zur Einheit innerer Wahrnehmung ist ein zweiter psychischer Akt, der sich an
die Einzelempfindungen anlehnt; aber anch von diesem zweiten Akt und seiner
Sonderung haben wir in unserer unmittelbaren Erfahrung kein Bewußtsein.
Wir wenden das Auge und sehen: Hier ist ein Baum, hier ein Haus, eine
Uhr, die schlägt u. s. w. Man hält dies Alles für einen einheitlichen Vor¬
gang, aber doch sind wesentlich zwei Theile zu unterscheiden: die Physische Er¬
regung und die psychische Auffassung. (S. 35. 39.)

Kant's Ruhm ist es, bewiesen zu haben, daß in dem synthetischen
Vermögen der Seele ihre Wahrheit erringende Kraft liege. Die psychologische
Betrachtung zeigt nun, daß solche Synthese schon bei der einfachsten psy¬
chischen Thätigkeit geschieht, da sie aus einer Summe von Erregungen eine
einheitliche Wahrnehmung bildet. Nun ist aber klar, daß diese Synthese reich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/185>, abgerufen am 01.09.2024.