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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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"ausspintisire". Unaufhörlich betont er, daß die Lösung der socialen Frage
für ihn identisch sei mit der Ablösung des Grund- und Capitaleigenthums,
mit dem vollen Besitze der Arbeiter an Grund und Boden und den gesell¬
schaftlichen Productionsmitteln; mit leichter Mühe ließe sich das Gothaer
Programm der heutigen Socialdemokratie in seinem principiellen Theile aus
diesen Briefen Wort sür Wort zusammensetzen. "Es gab einen esoterischen
und exoterischen Lassalle," notirt Rvdbertus nach dem Tode des Agitators mit
einem glücklichen Lakonismus, aber wenn er dann milde hinzufügt, daß da¬
durch nicht der geringste Makel auf Lassalle's Charakter geworfen würde, daß
praktische Weltfragen, wie die sociale, immer zugleich cholerisch und exoterisch be¬
handelt werden müßten und nur das dürftige Licht, welches der Liberalismus auf
Staatsmaximen dieser Art ausstrahle, diesen Satz anzufechten vermöge, so wird
eine gerecht wägende Nachwelt dies Urtheil schwerlich bestätigen. Dsr rrwcws
in und wie weit man die erlaubten Grenzen "politischer Heuchelei"
immer ziehen mag, sie sind in jedem Falle weit überschritten, wenn ein angeb¬
licher Heiland der Arbeiter sie für Forderungen und Gedanken fanatisirt, die
er in jedem Augenblicke bereit ist, auf den Kehricht zu werfen, wie einen abge¬
tragenen Handschuh. Es war ein Lieblingswort Lassalle's, daß es kein höheres
unwiderstehlicheres Machtmittel gebe, als "aussprechen das was sei"; nun wohl,
in seiner Agitation sprach er ans, was nicht in ihm war und nicht in ihm
sein konnte; so scheiterte er selbst in einem unlöslichen Zwiespalts und sein
Verein wurde im Laufe weniger Jahre wie spielend weggeschwemmt von der
consequenten Demagogie des radicalen Communismus.

Auch hat Rodbertus nicht in dem Sinne gehandelt, in welchem er nach¬
träglich das Beginnen Lassalle's beschönigte. Offenbar erlag er bis zu einem
gewissen Grade dem ungestümen Zauber dieser genialen Natur; es ist
ein Hochgenuß, das geistige Ringen der beiden seltenen Geister in den
Briefen Lassalle's sich wiederspiegeln zu sehen, aber im Wesentlichen blieb
Rodbertus bei seinem osternm Lönsso: keine politische Agitation mit wirth¬
schaftlich unhaltbaren Zielen! Eine Zeit lang scheint er gehofft zu haben, auf
die Entschlüsse Lassalle's bestimmend einwirken zu können; in dem Vierteljahre
zwischen dessen Antwortschreiben an das Leipziger Centralcomitö, welches die
Bewegung eröffnete, und der definitiven Gründung des allgemeinen deutschen
Arbeitervereins (von Mürz bis Mai 1863) ist der Gedankenaustausch am ein¬
gehendsten, freundschaftlichsten und lebhaftesten; in dieser Zeit ließ sich Rod¬
bertus bewegen, gleichfalls einen Brief an jenes ComitS zu richten, in welchem
er sich über Lassalle's Pläne äußerte. Aber wenngleich er ihm Recht gab in
der Unanfechtbarkeit des ehernen Lohngesetzes unter der fortdauernden Herr¬
schaft der capitalistischen Productionsweise, so war er doch ehrlich genug, die
Arbeiter zu warnen, sich durch die Proclamirung des allgemeinen Stimmrechts


„ausspintisire". Unaufhörlich betont er, daß die Lösung der socialen Frage
für ihn identisch sei mit der Ablösung des Grund- und Capitaleigenthums,
mit dem vollen Besitze der Arbeiter an Grund und Boden und den gesell¬
schaftlichen Productionsmitteln; mit leichter Mühe ließe sich das Gothaer
Programm der heutigen Socialdemokratie in seinem principiellen Theile aus
diesen Briefen Wort sür Wort zusammensetzen. „Es gab einen esoterischen
und exoterischen Lassalle," notirt Rvdbertus nach dem Tode des Agitators mit
einem glücklichen Lakonismus, aber wenn er dann milde hinzufügt, daß da¬
durch nicht der geringste Makel auf Lassalle's Charakter geworfen würde, daß
praktische Weltfragen, wie die sociale, immer zugleich cholerisch und exoterisch be¬
handelt werden müßten und nur das dürftige Licht, welches der Liberalismus auf
Staatsmaximen dieser Art ausstrahle, diesen Satz anzufechten vermöge, so wird
eine gerecht wägende Nachwelt dies Urtheil schwerlich bestätigen. Dsr rrwcws
in und wie weit man die erlaubten Grenzen „politischer Heuchelei"
immer ziehen mag, sie sind in jedem Falle weit überschritten, wenn ein angeb¬
licher Heiland der Arbeiter sie für Forderungen und Gedanken fanatisirt, die
er in jedem Augenblicke bereit ist, auf den Kehricht zu werfen, wie einen abge¬
tragenen Handschuh. Es war ein Lieblingswort Lassalle's, daß es kein höheres
unwiderstehlicheres Machtmittel gebe, als „aussprechen das was sei"; nun wohl,
in seiner Agitation sprach er ans, was nicht in ihm war und nicht in ihm
sein konnte; so scheiterte er selbst in einem unlöslichen Zwiespalts und sein
Verein wurde im Laufe weniger Jahre wie spielend weggeschwemmt von der
consequenten Demagogie des radicalen Communismus.

Auch hat Rodbertus nicht in dem Sinne gehandelt, in welchem er nach¬
träglich das Beginnen Lassalle's beschönigte. Offenbar erlag er bis zu einem
gewissen Grade dem ungestümen Zauber dieser genialen Natur; es ist
ein Hochgenuß, das geistige Ringen der beiden seltenen Geister in den
Briefen Lassalle's sich wiederspiegeln zu sehen, aber im Wesentlichen blieb
Rodbertus bei seinem osternm Lönsso: keine politische Agitation mit wirth¬
schaftlich unhaltbaren Zielen! Eine Zeit lang scheint er gehofft zu haben, auf
die Entschlüsse Lassalle's bestimmend einwirken zu können; in dem Vierteljahre
zwischen dessen Antwortschreiben an das Leipziger Centralcomitö, welches die
Bewegung eröffnete, und der definitiven Gründung des allgemeinen deutschen
Arbeitervereins (von Mürz bis Mai 1863) ist der Gedankenaustausch am ein¬
gehendsten, freundschaftlichsten und lebhaftesten; in dieser Zeit ließ sich Rod¬
bertus bewegen, gleichfalls einen Brief an jenes ComitS zu richten, in welchem
er sich über Lassalle's Pläne äußerte. Aber wenngleich er ihm Recht gab in
der Unanfechtbarkeit des ehernen Lohngesetzes unter der fortdauernden Herr¬
schaft der capitalistischen Productionsweise, so war er doch ehrlich genug, die
Arbeiter zu warnen, sich durch die Proclamirung des allgemeinen Stimmrechts


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/180>, abgerufen am 27.07.2024.