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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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nünftige Persönlichkeit ist für das Reich des Geistes dasselbe, was die Atom¬
kraft für das Reich der Natur. Als Organisationsprinzip in der Natur wir¬
kend und die Natur durch Aufnahme in ihr eigenes Gefühl erst vollendend,
erhebt sich die Seele über dieselbe zum Bewußtsein und wird die Trägerin
einer Idealwelt."

Hiermit haben wir die Grundlage des ganzen Werkes kennen gelernt und
können mit einem Sprunge über den nächsten Abschnitt hinweg: "Das Sein
und das Erkennen" sofort uns zu den beiden folgenden eng verbundenen Ab¬
schnitten hinwenden: "Die Idee der Vollkommenheit und das Seinsollende"
und: "Die Freiheit und das Gesetz" (S. 149--219).

Der erstere wird eröffnet mit dem paradox lautenden, aber prägnant aus¬
gedrückten Satze: "Gottlob, wir können irren!" Derselbe findet seine Aus¬
legung und nähere Erläuterung in einem zweiten Satze des folgenden Ab¬
schnittes: "Der Mensch ist nicht frei geschaffen, sondern zur Selbstbefreiung
berufen" (S. 191). Seine Freiheit ist Freiheitsfähigkeit und seine Bestimmung
ist, diese Fähigkeit aus sich zu entwickeln, zu befestigen und in seinem Be¬
wußtsein zum "Charakter", zur Gesinnung auszubilden. Von Natur ist der
Mensch eine eigenthümliche Wesenheit, mit bestimmten, unzerstörbaren Anlagen.
Denn seine Seele ist ein "Triebwesen", aber ein solches, welches ihn zu¬
nächst instinctiv das "Gute", "Wahre", "Schöne" dunkel empfinden und unter¬
scheiden läßt von ihren Gegensätzen, dem "Nichtseinsollenden". Dies ist die
ihm gegebene Ausstattung, nicht das Selbsterkorene. Seine Aufgabe aber ist,
durch Selbstbestimmung jenes Ursprüngliche in's Bewußtsein zu erheben, zu
gestalten, das bloß Natürliche zu beherrschen durch die innere Kraft des "sein¬
sollenden". Die "Gesetze" seiner Freiheit sind nur das Bewußtsein dieses
seinsollenden in uns, und so erwächst aus jenen Freiheitsthaten, innerhalb
der Menschengemeinschaft eine "sittliche Weltordnung" in den Formen
von Recht und Staat, von menschlicher Sitte, von Familie und bürger¬
licher Ordnung, von religiöser Gemeinschaft, vom Völkerrechte
(S. 242-261). Die Kunst schließt sich an als "Beglückung durch das
Schöne". Sie bringt im Seienden das Seinsollende zu unmittelbarer An¬
schauung. Schon im Volksepos, in der Sage spielt sich auf unmittelbare Weise
die Anerkennung der "sittlichen Weltordnung" ab. Und in der Kunstpoesie
unserer großen Dichter gewinnen wir die klare und bewußte Anschauung davon.
(S. 339--359.)

Aber der Mensch bleibt ohne den Unsterblichkeitsglauben sich selbst ein
Räthsel. Denn das Gefühl des Bruchstückartigen, Unvollendeten seines gegen¬
wärtigen Daseins drängt sich stets ihm auf; um so stärker, je ausschließlicher
er schon hier in den Ideen lebt. Daraus entsteht für ihn das "Postulat", die


nünftige Persönlichkeit ist für das Reich des Geistes dasselbe, was die Atom¬
kraft für das Reich der Natur. Als Organisationsprinzip in der Natur wir¬
kend und die Natur durch Aufnahme in ihr eigenes Gefühl erst vollendend,
erhebt sich die Seele über dieselbe zum Bewußtsein und wird die Trägerin
einer Idealwelt."

Hiermit haben wir die Grundlage des ganzen Werkes kennen gelernt und
können mit einem Sprunge über den nächsten Abschnitt hinweg: „Das Sein
und das Erkennen" sofort uns zu den beiden folgenden eng verbundenen Ab¬
schnitten hinwenden: „Die Idee der Vollkommenheit und das Seinsollende"
und: „Die Freiheit und das Gesetz" (S. 149—219).

Der erstere wird eröffnet mit dem paradox lautenden, aber prägnant aus¬
gedrückten Satze: „Gottlob, wir können irren!" Derselbe findet seine Aus¬
legung und nähere Erläuterung in einem zweiten Satze des folgenden Ab¬
schnittes: „Der Mensch ist nicht frei geschaffen, sondern zur Selbstbefreiung
berufen" (S. 191). Seine Freiheit ist Freiheitsfähigkeit und seine Bestimmung
ist, diese Fähigkeit aus sich zu entwickeln, zu befestigen und in seinem Be¬
wußtsein zum „Charakter", zur Gesinnung auszubilden. Von Natur ist der
Mensch eine eigenthümliche Wesenheit, mit bestimmten, unzerstörbaren Anlagen.
Denn seine Seele ist ein „Triebwesen", aber ein solches, welches ihn zu¬
nächst instinctiv das „Gute", „Wahre", „Schöne" dunkel empfinden und unter¬
scheiden läßt von ihren Gegensätzen, dem „Nichtseinsollenden". Dies ist die
ihm gegebene Ausstattung, nicht das Selbsterkorene. Seine Aufgabe aber ist,
durch Selbstbestimmung jenes Ursprüngliche in's Bewußtsein zu erheben, zu
gestalten, das bloß Natürliche zu beherrschen durch die innere Kraft des „sein¬
sollenden". Die „Gesetze" seiner Freiheit sind nur das Bewußtsein dieses
seinsollenden in uns, und so erwächst aus jenen Freiheitsthaten, innerhalb
der Menschengemeinschaft eine „sittliche Weltordnung" in den Formen
von Recht und Staat, von menschlicher Sitte, von Familie und bürger¬
licher Ordnung, von religiöser Gemeinschaft, vom Völkerrechte
(S. 242-261). Die Kunst schließt sich an als „Beglückung durch das
Schöne". Sie bringt im Seienden das Seinsollende zu unmittelbarer An¬
schauung. Schon im Volksepos, in der Sage spielt sich auf unmittelbare Weise
die Anerkennung der „sittlichen Weltordnung" ab. Und in der Kunstpoesie
unserer großen Dichter gewinnen wir die klare und bewußte Anschauung davon.
(S. 339—359.)

Aber der Mensch bleibt ohne den Unsterblichkeitsglauben sich selbst ein
Räthsel. Denn das Gefühl des Bruchstückartigen, Unvollendeten seines gegen¬
wärtigen Daseins drängt sich stets ihm auf; um so stärker, je ausschließlicher
er schon hier in den Ideen lebt. Daraus entsteht für ihn das „Postulat", die


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[0161] nünftige Persönlichkeit ist für das Reich des Geistes dasselbe, was die Atom¬ kraft für das Reich der Natur. Als Organisationsprinzip in der Natur wir¬ kend und die Natur durch Aufnahme in ihr eigenes Gefühl erst vollendend, erhebt sich die Seele über dieselbe zum Bewußtsein und wird die Trägerin einer Idealwelt." Hiermit haben wir die Grundlage des ganzen Werkes kennen gelernt und können mit einem Sprunge über den nächsten Abschnitt hinweg: „Das Sein und das Erkennen" sofort uns zu den beiden folgenden eng verbundenen Ab¬ schnitten hinwenden: „Die Idee der Vollkommenheit und das Seinsollende" und: „Die Freiheit und das Gesetz" (S. 149—219). Der erstere wird eröffnet mit dem paradox lautenden, aber prägnant aus¬ gedrückten Satze: „Gottlob, wir können irren!" Derselbe findet seine Aus¬ legung und nähere Erläuterung in einem zweiten Satze des folgenden Ab¬ schnittes: „Der Mensch ist nicht frei geschaffen, sondern zur Selbstbefreiung berufen" (S. 191). Seine Freiheit ist Freiheitsfähigkeit und seine Bestimmung ist, diese Fähigkeit aus sich zu entwickeln, zu befestigen und in seinem Be¬ wußtsein zum „Charakter", zur Gesinnung auszubilden. Von Natur ist der Mensch eine eigenthümliche Wesenheit, mit bestimmten, unzerstörbaren Anlagen. Denn seine Seele ist ein „Triebwesen", aber ein solches, welches ihn zu¬ nächst instinctiv das „Gute", „Wahre", „Schöne" dunkel empfinden und unter¬ scheiden läßt von ihren Gegensätzen, dem „Nichtseinsollenden". Dies ist die ihm gegebene Ausstattung, nicht das Selbsterkorene. Seine Aufgabe aber ist, durch Selbstbestimmung jenes Ursprüngliche in's Bewußtsein zu erheben, zu gestalten, das bloß Natürliche zu beherrschen durch die innere Kraft des „sein¬ sollenden". Die „Gesetze" seiner Freiheit sind nur das Bewußtsein dieses seinsollenden in uns, und so erwächst aus jenen Freiheitsthaten, innerhalb der Menschengemeinschaft eine „sittliche Weltordnung" in den Formen von Recht und Staat, von menschlicher Sitte, von Familie und bürger¬ licher Ordnung, von religiöser Gemeinschaft, vom Völkerrechte (S. 242-261). Die Kunst schließt sich an als „Beglückung durch das Schöne". Sie bringt im Seienden das Seinsollende zu unmittelbarer An¬ schauung. Schon im Volksepos, in der Sage spielt sich auf unmittelbare Weise die Anerkennung der „sittlichen Weltordnung" ab. Und in der Kunstpoesie unserer großen Dichter gewinnen wir die klare und bewußte Anschauung davon. (S. 339—359.) Aber der Mensch bleibt ohne den Unsterblichkeitsglauben sich selbst ein Räthsel. Denn das Gefühl des Bruchstückartigen, Unvollendeten seines gegen¬ wärtigen Daseins drängt sich stets ihm auf; um so stärker, je ausschließlicher er schon hier in den Ideen lebt. Daraus entsteht für ihn das „Postulat", die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/161>, abgerufen am 01.09.2024.