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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Hoffnung einer Fortdauer und das "Vorgefühl" einer Lebensvollendung.
(S. 334). Doch über das Wie einer solchen, da "die Erfahrung fehlt", muß man
der "Phantasie" ihr Recht lassen und darum lieber in Gedichten als in Prosa
darüber reden. (S. 338.)

Die beiden letzten Abschnitte: Die "Religion" und "Gott" (S. 355
bis 434) bauen auf dem Bisherigen weiter und führen es dem Abschlüsse zu.
-- In der Religion durchdringen und vereinigen sich zwei Elemente: von der
menschlichen Seite das tiefe Gefühl seiner Endlichkeit, Abhängigkeit, Hülfsbe¬
dürftigkeit; in welches aus einer höheren Quelle stammend das Gefühl der
Unterwerfung unter dies Höhere sich einsenkt, als Andacht, als ahnungsvolle
Scheu, als Gewissen. Der Verfasser weist mit Ulrici darauf hin: "Der
religiöse Glaube und seine allgemeine Verbreitung ist eine unbestreitbare That¬
sache; ein atheistisches Volk oder Zeitalter hat es niemals gegeben." (S. 361.)
Der Glaube an eine "sittliche Weltordnung" ist daher der Kern aller Religion.
Sie selbst aber, oder die "Gottesidee" ist transscendentalen Ursprungs. Dennoch
kann aber deßhalb Gott uns niemals als (Einzel-) Object gegenübertreten;
er ist vielmehr das allgegenwärtige Subject. Darin liegt die Vermittlung von
Trcmsscendeuz und Immanenz, von Deismus und Pantheismus. (S. 402.)
Seine Offenbarung in uns und unsere Freiheit in ihm bezeugen und ver¬
bürgen endlich die Wahrheit und Wirklichkeit einer "sittlichen Weltordnung" in
der Menschengeschichte. (S. 432. fig.)

Nach dieser übersichtlichen Skizze über den Inhalt des vorliegenden Wer¬
kes kann es nicht in meiner Absicht liegen, noch ist es überhaupt dieses Orts,
auf kritische Erörterungen in Betreff des Einzelnen einzugehe". Denn ich
selbst bin im Wesentlichen und im Grundgedanken völlig einverstanden mit
dem Verfasser. Es ist dieselbe Lehre, welche ich seit dem Anfange meiner
wissenschaftlichen Laufbahn an in philosophischen Lehrwerken auszubilden ver¬
sucht und zuletzt als "ethischen Theismus" bezeichnet habe. Und uoch kürzlich
habe ich meine entschiedene Ueberzeugung ausgesprochen, daß nur in dieser,
von uns Beiden, wie noch von andern Forschern -- älteren und neueren --
vertretenen Weltansicht die Rettung gefunden werden könne, um der deutschen
Speculation aus der verwirrenden Zersplitterung herauszuhelfen, in welche sie
nach der Kundigen Urtheil jetzt sich verfangen habe. ("Fragen und Bedenken"
1876. Vorwort.) Die dadurch angeregten hohen und lebenentscheidenden Wahr¬
heiten sind jedoch der vielfachsten Auffassung und Behandlung nicht nur
fähig, sondern selbst bedürftig; und so wäre es ebenso ungeeignet als überflüssig,
bei ihnen von Schule oder von Gedankcnpriorität zu reden. Und auch die einzel¬
nen Differenzen treten dabei in den Hintergrund; man kann sich zu ihnen be-


Hoffnung einer Fortdauer und das „Vorgefühl" einer Lebensvollendung.
(S. 334). Doch über das Wie einer solchen, da „die Erfahrung fehlt", muß man
der „Phantasie" ihr Recht lassen und darum lieber in Gedichten als in Prosa
darüber reden. (S. 338.)

Die beiden letzten Abschnitte: Die „Religion" und „Gott" (S. 355
bis 434) bauen auf dem Bisherigen weiter und führen es dem Abschlüsse zu.
— In der Religion durchdringen und vereinigen sich zwei Elemente: von der
menschlichen Seite das tiefe Gefühl seiner Endlichkeit, Abhängigkeit, Hülfsbe¬
dürftigkeit; in welches aus einer höheren Quelle stammend das Gefühl der
Unterwerfung unter dies Höhere sich einsenkt, als Andacht, als ahnungsvolle
Scheu, als Gewissen. Der Verfasser weist mit Ulrici darauf hin: „Der
religiöse Glaube und seine allgemeine Verbreitung ist eine unbestreitbare That¬
sache; ein atheistisches Volk oder Zeitalter hat es niemals gegeben." (S. 361.)
Der Glaube an eine „sittliche Weltordnung" ist daher der Kern aller Religion.
Sie selbst aber, oder die „Gottesidee" ist transscendentalen Ursprungs. Dennoch
kann aber deßhalb Gott uns niemals als (Einzel-) Object gegenübertreten;
er ist vielmehr das allgegenwärtige Subject. Darin liegt die Vermittlung von
Trcmsscendeuz und Immanenz, von Deismus und Pantheismus. (S. 402.)
Seine Offenbarung in uns und unsere Freiheit in ihm bezeugen und ver¬
bürgen endlich die Wahrheit und Wirklichkeit einer „sittlichen Weltordnung" in
der Menschengeschichte. (S. 432. fig.)

Nach dieser übersichtlichen Skizze über den Inhalt des vorliegenden Wer¬
kes kann es nicht in meiner Absicht liegen, noch ist es überhaupt dieses Orts,
auf kritische Erörterungen in Betreff des Einzelnen einzugehe». Denn ich
selbst bin im Wesentlichen und im Grundgedanken völlig einverstanden mit
dem Verfasser. Es ist dieselbe Lehre, welche ich seit dem Anfange meiner
wissenschaftlichen Laufbahn an in philosophischen Lehrwerken auszubilden ver¬
sucht und zuletzt als „ethischen Theismus" bezeichnet habe. Und uoch kürzlich
habe ich meine entschiedene Ueberzeugung ausgesprochen, daß nur in dieser,
von uns Beiden, wie noch von andern Forschern — älteren und neueren —
vertretenen Weltansicht die Rettung gefunden werden könne, um der deutschen
Speculation aus der verwirrenden Zersplitterung herauszuhelfen, in welche sie
nach der Kundigen Urtheil jetzt sich verfangen habe. („Fragen und Bedenken"
1876. Vorwort.) Die dadurch angeregten hohen und lebenentscheidenden Wahr¬
heiten sind jedoch der vielfachsten Auffassung und Behandlung nicht nur
fähig, sondern selbst bedürftig; und so wäre es ebenso ungeeignet als überflüssig,
bei ihnen von Schule oder von Gedankcnpriorität zu reden. Und auch die einzel¬
nen Differenzen treten dabei in den Hintergrund; man kann sich zu ihnen be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/162>, abgerufen am 01.09.2024.