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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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so können wir hier im Osten an der Elbe, wo vor 1000 Jahren kein deutsches
Wort erklang, kühnlich antworten: "Wir stehen auf ihrem Boden; sie sind ein
unzertrennlicher, ja der herrschende Theil unseres Vaterlandes geworden."
Welches andere Volk Europas könnte das von den seinigen behaupten? Was
das Schwert der tapferen Markgrafen von Brandenburg, Meißen und Oester¬
reich gewonnen, das behaupten die dichten Schaaren deutscher Bürger und
Bauern, die sie ins eroberte Slavenland rufen; ja weit über die alten Reichs¬
grenzen hinaus, nach Schlesien und Polen, Preußen und Livland, Ungarn und
Siebenbürgen dringen die deutschen Waffen und der deutsche Pflug. Der
deutsche Kaufmann wird in Nowgorod und Kijew heimisch, wie der italienische
in Konstantinopel und Kairo. Gewaltig zeigt sich bald die Zunahme des
Reichthums ab der Volkszahl, und mit beiden wächst den Bewohnern der
großen ummauerten Dörfer, die man damals Städte nannte und die noch
unter dem harten Hofrecht ihrer Grundherren standen, Stolz und Selbstgefühl;
bald schiebt sich in die bis dahin durch und durch aristokratische Gesellschaft
ein demokratisches Element, die selbständigen, streitfähigen Gemeinden wohl¬
habender freier Bürger. Nicht lange, und auch auf dem platten Lande be¬
ginnen die Unfreien sich zu erheben gegen den Grundadel. In ungeahnter
Weise aber erweitert sich der geistige Gesichtskreis aller. Die weite Welt mit
all ihrer reizvollen Mannigfaltigkeit hat sich dem Auge des Menschen aufge-
ihan; er hat Personen und Völker vergleichen gelernt, seine Urtheilskraft hat
sich geschärft und er beginnt auch an das Ueberlieferte den kritischen Maßstab
Zu legen, er wagt es, seine Subjektivität zur Geltung zu bringen gegenüber
der Gesammtheit, langsamer und schwerfälliger in Deutschland, rascher und
behender in Italien und Frankreich. Gegenüber der Hierarchie und ihrer
Verderbniß regt sich die Ketzerei und die Mystik, um nie wieder zu ver¬
stummen; in der Literatur wagt es der Sänger, nicht mehr bloß die
Thaten grauer Vorzeit im Epos zu verherrlichen, sondern auch seine eigensten
Gefühle auszusprechen, sein Gutachten abzugeben über die großen Dinge dieser
Welt: die Lyrik und Didaktik brechen sich Bahn, und zum ersten Male wird
w den Händen des Oesterreichers Walther die Poesie eine politische Macht.
Derweilen bricht in Frankreich die Kunst mit der romanischen Tradition; des
Gesetzes der Schwere scheinbar spottend führt sie ihre Dome auf, und mächtig
reißt der neue Stil, den wir den gothischen nennen und den französischen
nennen sollten, im ganzen Abendlande die Herrschaft an sich. -- Als aber der
Verkehr rascher pulsirte, die einzelnen Landschaften in regere Verbindung traten,
die Entfernungen, die Köln und Lübeck trennten, verschwanden gegenüber den
ungeheuren Strecken, auf die jetzt der deutsche Kaufherr seine Berechnungen
auszudehnen sich gewöhnte, da war auch die Zeit fester nationaler Einigung


so können wir hier im Osten an der Elbe, wo vor 1000 Jahren kein deutsches
Wort erklang, kühnlich antworten: „Wir stehen auf ihrem Boden; sie sind ein
unzertrennlicher, ja der herrschende Theil unseres Vaterlandes geworden."
Welches andere Volk Europas könnte das von den seinigen behaupten? Was
das Schwert der tapferen Markgrafen von Brandenburg, Meißen und Oester¬
reich gewonnen, das behaupten die dichten Schaaren deutscher Bürger und
Bauern, die sie ins eroberte Slavenland rufen; ja weit über die alten Reichs¬
grenzen hinaus, nach Schlesien und Polen, Preußen und Livland, Ungarn und
Siebenbürgen dringen die deutschen Waffen und der deutsche Pflug. Der
deutsche Kaufmann wird in Nowgorod und Kijew heimisch, wie der italienische
in Konstantinopel und Kairo. Gewaltig zeigt sich bald die Zunahme des
Reichthums ab der Volkszahl, und mit beiden wächst den Bewohnern der
großen ummauerten Dörfer, die man damals Städte nannte und die noch
unter dem harten Hofrecht ihrer Grundherren standen, Stolz und Selbstgefühl;
bald schiebt sich in die bis dahin durch und durch aristokratische Gesellschaft
ein demokratisches Element, die selbständigen, streitfähigen Gemeinden wohl¬
habender freier Bürger. Nicht lange, und auch auf dem platten Lande be¬
ginnen die Unfreien sich zu erheben gegen den Grundadel. In ungeahnter
Weise aber erweitert sich der geistige Gesichtskreis aller. Die weite Welt mit
all ihrer reizvollen Mannigfaltigkeit hat sich dem Auge des Menschen aufge-
ihan; er hat Personen und Völker vergleichen gelernt, seine Urtheilskraft hat
sich geschärft und er beginnt auch an das Ueberlieferte den kritischen Maßstab
Zu legen, er wagt es, seine Subjektivität zur Geltung zu bringen gegenüber
der Gesammtheit, langsamer und schwerfälliger in Deutschland, rascher und
behender in Italien und Frankreich. Gegenüber der Hierarchie und ihrer
Verderbniß regt sich die Ketzerei und die Mystik, um nie wieder zu ver¬
stummen; in der Literatur wagt es der Sänger, nicht mehr bloß die
Thaten grauer Vorzeit im Epos zu verherrlichen, sondern auch seine eigensten
Gefühle auszusprechen, sein Gutachten abzugeben über die großen Dinge dieser
Welt: die Lyrik und Didaktik brechen sich Bahn, und zum ersten Male wird
w den Händen des Oesterreichers Walther die Poesie eine politische Macht.
Derweilen bricht in Frankreich die Kunst mit der romanischen Tradition; des
Gesetzes der Schwere scheinbar spottend führt sie ihre Dome auf, und mächtig
reißt der neue Stil, den wir den gothischen nennen und den französischen
nennen sollten, im ganzen Abendlande die Herrschaft an sich. — Als aber der
Verkehr rascher pulsirte, die einzelnen Landschaften in regere Verbindung traten,
die Entfernungen, die Köln und Lübeck trennten, verschwanden gegenüber den
ungeheuren Strecken, auf die jetzt der deutsche Kaufherr seine Berechnungen
auszudehnen sich gewöhnte, da war auch die Zeit fester nationaler Einigung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/135>, abgerufen am 27.07.2024.