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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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gekommen. In Frankreich, später in Spanien, ist sie gelungen, in Deutschland
damals an der Stärke der lokalen Kräfte, in Italien an dem Mangel jeder
nationalen Gewalt gescheitert. Aber instinktiv schließen sich auch hier überall
die Städte und Edelleute zu großen Bündnissen aneinander; in Italien nimmt
ein Städtebund den Kampf mit dem Kaiserthume aus, in Deutschland vereinigt
die Hansa die Gemeinden von Köln bis Reval. Und ans einem Gebiete bahnt
sich anch hier die nationale Einigung an: der toskanische Dialekt wird zur
Sprache des ganzen gebildeten Italiens, und in schwäbischer Mundart dichten
die Sänger in Wien und auf der Wartburg.

Man kann zunächst allerdings fragen: "Hat denu das alte Griechenland
dieser wunderbar schöpferischen Zeit unseres Mittelalters, hat es vor allem den
Kreuzzügen nur entfernt etwas Aehnliches an die Seite zu setzen?" Man
muß gestehen: so von einem Impulse geleitete Bewegungen hat es allerdings
nicht gesehen; aber in bescheidener Form stehen doch die Kolonistenfahrten und
die Kolonialgründungen der Griechen ans derselben Stufe. Denn neben ihren
politischen und kommerziellen Motiven, von denen sie überwiegend geleitet
werden, steht auch ein religiöser Zug; in Delphi, dem -- man gestatte den
Ausdruck -- kirchlichen Mittelpunkte der griechischen Welt, fragt gläubig die
Gemeinde, die ihre Söhne dem wilden Meere anvertrauen will, um Rath; vom
Herde der Mutterstadt wird das heilige Feuer, sorgsam bewahrt, uach der
Kolonie hinübergeführt; dieselben Kulte, wie dort, gelten auch hier. Und nicht
eben weit stehen diese Fahrten an Ausdehnung hinter denen der Kreuzzugs¬
epoche zurück. Die Griechen, Milesier und Phokäer, Rhodier und Korinthier
voran, werden heimisch nnter den Palmen Aegyptens am heißen Nilstrande, im
Schneegestöber am Don, unter der Rauchsäule des Aetna, an der Felsmauer der
Pyrenäen, ihre Karavanen ziehen bis Ostasien und bis nach Babylon. Auf
ihren Märkten sehen sie die Fische und das Getreide der Pontusländer, das
Silphium von Kyrene, die Edelsteine und Perlen Indiens. Unendlich erweitert
sich der geistige Gesichtskreis; die verschiedenartigsten Menschen und Zustände
treten in ihn ein: der Despot des Ostens und der Steppenhänptling Südru߬
lands, die uralte Kultur Aegyptens und das Hirtenleben Siziliens. Da er¬
wacht anch hier durch Vergleichung die Kritik, die geistige Selbständigkeit, die
Persönlichkeit. Kraftvolle, eigenartige Menschen tauchen auf, vor allem die
großen Tyrannen, nicht mehr Typen, sondern Charaktere. In dem an: weitesten
fortgeschrittenen Jonien beginnen helle Köpfe den naiven Götterglauben anzu¬
zweifeln, zu forschen nach dem Wie und Warum der sie umgebenden Dinge;
verwegen setzt bereits Xenophanes von Kolophon dem Polytheismus einen
schroffen Monotheismus entgcgegen. Aber auch aufzubauen verflicht die neue
Zeit. Aus der Beobachtung der Menschenwelt leitet sie sittliche Lehrsätze und


gekommen. In Frankreich, später in Spanien, ist sie gelungen, in Deutschland
damals an der Stärke der lokalen Kräfte, in Italien an dem Mangel jeder
nationalen Gewalt gescheitert. Aber instinktiv schließen sich auch hier überall
die Städte und Edelleute zu großen Bündnissen aneinander; in Italien nimmt
ein Städtebund den Kampf mit dem Kaiserthume aus, in Deutschland vereinigt
die Hansa die Gemeinden von Köln bis Reval. Und ans einem Gebiete bahnt
sich anch hier die nationale Einigung an: der toskanische Dialekt wird zur
Sprache des ganzen gebildeten Italiens, und in schwäbischer Mundart dichten
die Sänger in Wien und auf der Wartburg.

Man kann zunächst allerdings fragen: „Hat denu das alte Griechenland
dieser wunderbar schöpferischen Zeit unseres Mittelalters, hat es vor allem den
Kreuzzügen nur entfernt etwas Aehnliches an die Seite zu setzen?" Man
muß gestehen: so von einem Impulse geleitete Bewegungen hat es allerdings
nicht gesehen; aber in bescheidener Form stehen doch die Kolonistenfahrten und
die Kolonialgründungen der Griechen ans derselben Stufe. Denn neben ihren
politischen und kommerziellen Motiven, von denen sie überwiegend geleitet
werden, steht auch ein religiöser Zug; in Delphi, dem — man gestatte den
Ausdruck — kirchlichen Mittelpunkte der griechischen Welt, fragt gläubig die
Gemeinde, die ihre Söhne dem wilden Meere anvertrauen will, um Rath; vom
Herde der Mutterstadt wird das heilige Feuer, sorgsam bewahrt, uach der
Kolonie hinübergeführt; dieselben Kulte, wie dort, gelten auch hier. Und nicht
eben weit stehen diese Fahrten an Ausdehnung hinter denen der Kreuzzugs¬
epoche zurück. Die Griechen, Milesier und Phokäer, Rhodier und Korinthier
voran, werden heimisch nnter den Palmen Aegyptens am heißen Nilstrande, im
Schneegestöber am Don, unter der Rauchsäule des Aetna, an der Felsmauer der
Pyrenäen, ihre Karavanen ziehen bis Ostasien und bis nach Babylon. Auf
ihren Märkten sehen sie die Fische und das Getreide der Pontusländer, das
Silphium von Kyrene, die Edelsteine und Perlen Indiens. Unendlich erweitert
sich der geistige Gesichtskreis; die verschiedenartigsten Menschen und Zustände
treten in ihn ein: der Despot des Ostens und der Steppenhänptling Südru߬
lands, die uralte Kultur Aegyptens und das Hirtenleben Siziliens. Da er¬
wacht anch hier durch Vergleichung die Kritik, die geistige Selbständigkeit, die
Persönlichkeit. Kraftvolle, eigenartige Menschen tauchen auf, vor allem die
großen Tyrannen, nicht mehr Typen, sondern Charaktere. In dem an: weitesten
fortgeschrittenen Jonien beginnen helle Köpfe den naiven Götterglauben anzu¬
zweifeln, zu forschen nach dem Wie und Warum der sie umgebenden Dinge;
verwegen setzt bereits Xenophanes von Kolophon dem Polytheismus einen
schroffen Monotheismus entgcgegen. Aber auch aufzubauen verflicht die neue
Zeit. Aus der Beobachtung der Menschenwelt leitet sie sittliche Lehrsätze und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/136>, abgerufen am 27.07.2024.