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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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völkeruug zur Staatsthätigkeit heranzog. Ich brauche endlich kaum hervorzu¬
heben, wie ungeheuer der Unterschied ist zwischen dem griechischen Polytheismus,
den, eben weil er eine Naturreligion war, jede Fortbildung der sittlichen An¬
schauung in unlösbaren Konflikt mit dieser selbst bringen mußte, und dem
Christenthume, das jedem echten Kulturfortschritt sich anschmiegt und, recht
verstanden, jede Periode zu befriedigen vermag.

Aber trotz dieser tiefgreifenden Verschiedenheit herrschen dieselben historischen
Gesetze mit solcher Konsequenz hüben und drüben, daß der Parallelismus
der Entwicklungsreihen in die Augen springt.

Wenn wir nun hier den Nachweis dieses Parallelismus versuchen und
uns dabei wesentlich auf das deutsche Mittelalter beschränken, so geschieht
das aus einem durchaus objektiven Grunde. Die romanischen Völker Europas
sind keine Urvölker wie das deutsche; die Länder, die sie bewohnen, haben früh
einen so starken fremden Kultureinfluß erfahren, daß ihre Bewohner sich nicht
überall vergleichen lassen mit einem Volke, das wie das griechische auf einem
jungfräulichen, von fremder Kultur niemals vorher berührten Boden sich ent¬
wickelt hat.

Werfen wir nnn einen Blick auf Griechenland in seiner ältesten Zeit,
längst vor der dorischen Wanderung und vor Homer. Da sehen wir ein Volk,
in zahllose Stämme atomistisch zersplittert, nnr hier und da schon geschaart
um feste Burgen auf felsiger Höhe, in sichrer Entfernung vom gefährlichen
Strande, zu Göttern betend, die bildlos und tempellos in rauschendem Eichen¬
haine Hausen oder von freier Höhe herabschauen auf das blaue Meer, auf
nackte ragende Felsgipfel, auf grünes Waldland, aus dem hier und da wie
Inseln die Lichtungen der Menschen hervorschimmern, und diese Menschen selbst
wiederum erblicken wir in ewigem Kampfe mit der ungezühmten und schier
unbezähmbaren Natur; immer wieder ringt Herakles mit den Ungeheuern des
Sumpfes und des Bergwaldes. Noch kreuzen nur leichte Kähne, von Küste
zu Küste, von Insel zu Insel sich forttastend, die schäumende Meerfluth; aber
schon taucht hier und dort ein fremdartiges Ungethüm auf, ein phönikisches
Ruderschiff schwimmt heran mit blähenden Segeln; mißtrauisch spähen vom
ragenden Vordertheil dunkelfarbige, schwarzbärtige Männer in jede einladende
Bucht; sie landen, sie breiten am Strande die lockenden Produkte ihres Kunst-
fleiszes vor den neugierigen Augen der schlanken Landeskinder ans; nicht lange,
und die Fremden sind heimisch geworden, eine Faktorei erhebt sich am
Strande, und die ersten Fäden spinnen sich von dem barbarischen Griechenland
hinüber nach der Kulturwelt des semitischen Ostens.

Nehmen wir dem Bilde die griechische Lokalfarbe, setzen wir an die Stelle
der felsigen Halbinseln und tiefeinschneidender Buchten unter dein leuchtenden


völkeruug zur Staatsthätigkeit heranzog. Ich brauche endlich kaum hervorzu¬
heben, wie ungeheuer der Unterschied ist zwischen dem griechischen Polytheismus,
den, eben weil er eine Naturreligion war, jede Fortbildung der sittlichen An¬
schauung in unlösbaren Konflikt mit dieser selbst bringen mußte, und dem
Christenthume, das jedem echten Kulturfortschritt sich anschmiegt und, recht
verstanden, jede Periode zu befriedigen vermag.

Aber trotz dieser tiefgreifenden Verschiedenheit herrschen dieselben historischen
Gesetze mit solcher Konsequenz hüben und drüben, daß der Parallelismus
der Entwicklungsreihen in die Augen springt.

Wenn wir nun hier den Nachweis dieses Parallelismus versuchen und
uns dabei wesentlich auf das deutsche Mittelalter beschränken, so geschieht
das aus einem durchaus objektiven Grunde. Die romanischen Völker Europas
sind keine Urvölker wie das deutsche; die Länder, die sie bewohnen, haben früh
einen so starken fremden Kultureinfluß erfahren, daß ihre Bewohner sich nicht
überall vergleichen lassen mit einem Volke, das wie das griechische auf einem
jungfräulichen, von fremder Kultur niemals vorher berührten Boden sich ent¬
wickelt hat.

Werfen wir nnn einen Blick auf Griechenland in seiner ältesten Zeit,
längst vor der dorischen Wanderung und vor Homer. Da sehen wir ein Volk,
in zahllose Stämme atomistisch zersplittert, nnr hier und da schon geschaart
um feste Burgen auf felsiger Höhe, in sichrer Entfernung vom gefährlichen
Strande, zu Göttern betend, die bildlos und tempellos in rauschendem Eichen¬
haine Hausen oder von freier Höhe herabschauen auf das blaue Meer, auf
nackte ragende Felsgipfel, auf grünes Waldland, aus dem hier und da wie
Inseln die Lichtungen der Menschen hervorschimmern, und diese Menschen selbst
wiederum erblicken wir in ewigem Kampfe mit der ungezühmten und schier
unbezähmbaren Natur; immer wieder ringt Herakles mit den Ungeheuern des
Sumpfes und des Bergwaldes. Noch kreuzen nur leichte Kähne, von Küste
zu Küste, von Insel zu Insel sich forttastend, die schäumende Meerfluth; aber
schon taucht hier und dort ein fremdartiges Ungethüm auf, ein phönikisches
Ruderschiff schwimmt heran mit blähenden Segeln; mißtrauisch spähen vom
ragenden Vordertheil dunkelfarbige, schwarzbärtige Männer in jede einladende
Bucht; sie landen, sie breiten am Strande die lockenden Produkte ihres Kunst-
fleiszes vor den neugierigen Augen der schlanken Landeskinder ans; nicht lange,
und die Fremden sind heimisch geworden, eine Faktorei erhebt sich am
Strande, und die ersten Fäden spinnen sich von dem barbarischen Griechenland
hinüber nach der Kulturwelt des semitischen Ostens.

Nehmen wir dem Bilde die griechische Lokalfarbe, setzen wir an die Stelle
der felsigen Halbinseln und tiefeinschneidender Buchten unter dein leuchtenden


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[0127] völkeruug zur Staatsthätigkeit heranzog. Ich brauche endlich kaum hervorzu¬ heben, wie ungeheuer der Unterschied ist zwischen dem griechischen Polytheismus, den, eben weil er eine Naturreligion war, jede Fortbildung der sittlichen An¬ schauung in unlösbaren Konflikt mit dieser selbst bringen mußte, und dem Christenthume, das jedem echten Kulturfortschritt sich anschmiegt und, recht verstanden, jede Periode zu befriedigen vermag. Aber trotz dieser tiefgreifenden Verschiedenheit herrschen dieselben historischen Gesetze mit solcher Konsequenz hüben und drüben, daß der Parallelismus der Entwicklungsreihen in die Augen springt. Wenn wir nun hier den Nachweis dieses Parallelismus versuchen und uns dabei wesentlich auf das deutsche Mittelalter beschränken, so geschieht das aus einem durchaus objektiven Grunde. Die romanischen Völker Europas sind keine Urvölker wie das deutsche; die Länder, die sie bewohnen, haben früh einen so starken fremden Kultureinfluß erfahren, daß ihre Bewohner sich nicht überall vergleichen lassen mit einem Volke, das wie das griechische auf einem jungfräulichen, von fremder Kultur niemals vorher berührten Boden sich ent¬ wickelt hat. Werfen wir nnn einen Blick auf Griechenland in seiner ältesten Zeit, längst vor der dorischen Wanderung und vor Homer. Da sehen wir ein Volk, in zahllose Stämme atomistisch zersplittert, nnr hier und da schon geschaart um feste Burgen auf felsiger Höhe, in sichrer Entfernung vom gefährlichen Strande, zu Göttern betend, die bildlos und tempellos in rauschendem Eichen¬ haine Hausen oder von freier Höhe herabschauen auf das blaue Meer, auf nackte ragende Felsgipfel, auf grünes Waldland, aus dem hier und da wie Inseln die Lichtungen der Menschen hervorschimmern, und diese Menschen selbst wiederum erblicken wir in ewigem Kampfe mit der ungezühmten und schier unbezähmbaren Natur; immer wieder ringt Herakles mit den Ungeheuern des Sumpfes und des Bergwaldes. Noch kreuzen nur leichte Kähne, von Küste zu Küste, von Insel zu Insel sich forttastend, die schäumende Meerfluth; aber schon taucht hier und dort ein fremdartiges Ungethüm auf, ein phönikisches Ruderschiff schwimmt heran mit blähenden Segeln; mißtrauisch spähen vom ragenden Vordertheil dunkelfarbige, schwarzbärtige Männer in jede einladende Bucht; sie landen, sie breiten am Strande die lockenden Produkte ihres Kunst- fleiszes vor den neugierigen Augen der schlanken Landeskinder ans; nicht lange, und die Fremden sind heimisch geworden, eine Faktorei erhebt sich am Strande, und die ersten Fäden spinnen sich von dem barbarischen Griechenland hinüber nach der Kulturwelt des semitischen Ostens. Nehmen wir dem Bilde die griechische Lokalfarbe, setzen wir an die Stelle der felsigen Halbinseln und tiefeinschneidender Buchten unter dein leuchtenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/127>, abgerufen am 29.12.2024.