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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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aufkommen lasse". Eben deshalb sind die Griechen niemals von dem Stadt¬
staate fortgeschritten zum Flächenstaate und konnten also niemals zu ihrer
Einheit gelangen; denn diese zahllosen, autonomen, abgeschlossenen Gemeinden
konnten sich allerhöchstens in einer losen Bundesverfassung zusammenfinden
und haben sich thatsächlich fast stets bekämpft; nicht der Friede ist die Regel
in der antiken Welt, sondern der Krieg. Niemals konnte ferner Griechenland
ein so reines Ackerbauland sein, als etwa Deutschland bis ins 12. Jahrhundert
hinein gewesen ist; zu tief dringt dort das blaue Meer in's Land hinein, und
zu lockend winken schön geschwungene Vorgebirge und ragende Inseln hinaus
auf das ewig bewegliche Element der "silberfüßigen Thetis", als daß nicht
früh diese Hellenen ein Handelsvolk hätten werden und in Städten sich hätten
zusammensiedeln müssen. Und doch, haben große Theile Griechenlands eine
wichtige Vorstufe wirthschaftlicher Entwicklung rasch übersprungen, auf der
anderen Seite ist Hellas wiederum nie aus mittelalterlichen Banden heraus¬
gekommen. Wenn der umfassendste Genius, den es je hervorgebracht, wenn
Aristoteles die Sklaverei als eine naturgemäße und ewige Institution betrachtet,
während die christliche Zeit sie zwar langsam, aber völlig überwunden hat, so
mag man daraus ermessen, wie sehr diese Anschauung seinen Landsleuten in
Fleisch und Blut übergegangen war. Es kann keinem Zweifel unterliegen: die
verhältnißmäßig kurze Lebensdauer der antiken Nationen ist ganz wesentlich
durch dies Prinzip veranlaßt worden. Denn eben bei den höchst entwickelten
Stämmen ging der bei weitem größte Theil der wirthschaftlichen Arbeit natur¬
gemäß in die Hände der Sklaven über; eben dadurch wurde die Arbeit entehrt,
eben daraus erklärt sich jene heillose Anschauung, daß die Handarbeit des
freien Mannes unwürdig sei. In erbarmungsloser Konsequenz davon verdirbt
die Sklaverei auch den Herrn durch Gewöhnung an Müßiggang, Schwelgerei,
Gleichgiltigkeit gegen die Leiden anderer. Das geistvolle Volk der Athener,
das den Dramen des Sophokles lauschte, und dessen Edelste sich um Platon
drängten, dies Volk, wie es nie wiedergekommen ist und nie wiederkommen
kann, sank herab zu einer arbeitsscheuen, vergnügungssüchtigen Masse, die kaum
100 Jahre nach Perikles auch der Feuergeist eines Demosthenes nicht zu an¬
dauernder Anstrengung für die eigne Unabhängigkeit spornen konnte, und die
einen Demetrios als "rettenden Gott" begrüßte, weil er ihr schmeichelte und
Brot und Spiele gab. Und doch wäre wiederum -- so eng hängt das Ver¬
derben an dem Schönen -- die edle Geistesblüthe, um die wir Griechenland
beneiden möchten, nie möglich gewesen ohne eine freie Bevölkerung, welche
Hunderttausende von Sklaven für sich schaffen ließ, und nie möglich gewesen
wäre ohne diese jene ätherische Demokratie, die einen wunderbaren Staatsbäu
errichtete und in einer jetzt ganz undenkbaren Weise die gesammte freie Be-


aufkommen lasse». Eben deshalb sind die Griechen niemals von dem Stadt¬
staate fortgeschritten zum Flächenstaate und konnten also niemals zu ihrer
Einheit gelangen; denn diese zahllosen, autonomen, abgeschlossenen Gemeinden
konnten sich allerhöchstens in einer losen Bundesverfassung zusammenfinden
und haben sich thatsächlich fast stets bekämpft; nicht der Friede ist die Regel
in der antiken Welt, sondern der Krieg. Niemals konnte ferner Griechenland
ein so reines Ackerbauland sein, als etwa Deutschland bis ins 12. Jahrhundert
hinein gewesen ist; zu tief dringt dort das blaue Meer in's Land hinein, und
zu lockend winken schön geschwungene Vorgebirge und ragende Inseln hinaus
auf das ewig bewegliche Element der „silberfüßigen Thetis", als daß nicht
früh diese Hellenen ein Handelsvolk hätten werden und in Städten sich hätten
zusammensiedeln müssen. Und doch, haben große Theile Griechenlands eine
wichtige Vorstufe wirthschaftlicher Entwicklung rasch übersprungen, auf der
anderen Seite ist Hellas wiederum nie aus mittelalterlichen Banden heraus¬
gekommen. Wenn der umfassendste Genius, den es je hervorgebracht, wenn
Aristoteles die Sklaverei als eine naturgemäße und ewige Institution betrachtet,
während die christliche Zeit sie zwar langsam, aber völlig überwunden hat, so
mag man daraus ermessen, wie sehr diese Anschauung seinen Landsleuten in
Fleisch und Blut übergegangen war. Es kann keinem Zweifel unterliegen: die
verhältnißmäßig kurze Lebensdauer der antiken Nationen ist ganz wesentlich
durch dies Prinzip veranlaßt worden. Denn eben bei den höchst entwickelten
Stämmen ging der bei weitem größte Theil der wirthschaftlichen Arbeit natur¬
gemäß in die Hände der Sklaven über; eben dadurch wurde die Arbeit entehrt,
eben daraus erklärt sich jene heillose Anschauung, daß die Handarbeit des
freien Mannes unwürdig sei. In erbarmungsloser Konsequenz davon verdirbt
die Sklaverei auch den Herrn durch Gewöhnung an Müßiggang, Schwelgerei,
Gleichgiltigkeit gegen die Leiden anderer. Das geistvolle Volk der Athener,
das den Dramen des Sophokles lauschte, und dessen Edelste sich um Platon
drängten, dies Volk, wie es nie wiedergekommen ist und nie wiederkommen
kann, sank herab zu einer arbeitsscheuen, vergnügungssüchtigen Masse, die kaum
100 Jahre nach Perikles auch der Feuergeist eines Demosthenes nicht zu an¬
dauernder Anstrengung für die eigne Unabhängigkeit spornen konnte, und die
einen Demetrios als „rettenden Gott" begrüßte, weil er ihr schmeichelte und
Brot und Spiele gab. Und doch wäre wiederum — so eng hängt das Ver¬
derben an dem Schönen — die edle Geistesblüthe, um die wir Griechenland
beneiden möchten, nie möglich gewesen ohne eine freie Bevölkerung, welche
Hunderttausende von Sklaven für sich schaffen ließ, und nie möglich gewesen
wäre ohne diese jene ätherische Demokratie, die einen wunderbaren Staatsbäu
errichtete und in einer jetzt ganz undenkbaren Weise die gesammte freie Be-


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[0126] aufkommen lasse». Eben deshalb sind die Griechen niemals von dem Stadt¬ staate fortgeschritten zum Flächenstaate und konnten also niemals zu ihrer Einheit gelangen; denn diese zahllosen, autonomen, abgeschlossenen Gemeinden konnten sich allerhöchstens in einer losen Bundesverfassung zusammenfinden und haben sich thatsächlich fast stets bekämpft; nicht der Friede ist die Regel in der antiken Welt, sondern der Krieg. Niemals konnte ferner Griechenland ein so reines Ackerbauland sein, als etwa Deutschland bis ins 12. Jahrhundert hinein gewesen ist; zu tief dringt dort das blaue Meer in's Land hinein, und zu lockend winken schön geschwungene Vorgebirge und ragende Inseln hinaus auf das ewig bewegliche Element der „silberfüßigen Thetis", als daß nicht früh diese Hellenen ein Handelsvolk hätten werden und in Städten sich hätten zusammensiedeln müssen. Und doch, haben große Theile Griechenlands eine wichtige Vorstufe wirthschaftlicher Entwicklung rasch übersprungen, auf der anderen Seite ist Hellas wiederum nie aus mittelalterlichen Banden heraus¬ gekommen. Wenn der umfassendste Genius, den es je hervorgebracht, wenn Aristoteles die Sklaverei als eine naturgemäße und ewige Institution betrachtet, während die christliche Zeit sie zwar langsam, aber völlig überwunden hat, so mag man daraus ermessen, wie sehr diese Anschauung seinen Landsleuten in Fleisch und Blut übergegangen war. Es kann keinem Zweifel unterliegen: die verhältnißmäßig kurze Lebensdauer der antiken Nationen ist ganz wesentlich durch dies Prinzip veranlaßt worden. Denn eben bei den höchst entwickelten Stämmen ging der bei weitem größte Theil der wirthschaftlichen Arbeit natur¬ gemäß in die Hände der Sklaven über; eben dadurch wurde die Arbeit entehrt, eben daraus erklärt sich jene heillose Anschauung, daß die Handarbeit des freien Mannes unwürdig sei. In erbarmungsloser Konsequenz davon verdirbt die Sklaverei auch den Herrn durch Gewöhnung an Müßiggang, Schwelgerei, Gleichgiltigkeit gegen die Leiden anderer. Das geistvolle Volk der Athener, das den Dramen des Sophokles lauschte, und dessen Edelste sich um Platon drängten, dies Volk, wie es nie wiedergekommen ist und nie wiederkommen kann, sank herab zu einer arbeitsscheuen, vergnügungssüchtigen Masse, die kaum 100 Jahre nach Perikles auch der Feuergeist eines Demosthenes nicht zu an¬ dauernder Anstrengung für die eigne Unabhängigkeit spornen konnte, und die einen Demetrios als „rettenden Gott" begrüßte, weil er ihr schmeichelte und Brot und Spiele gab. Und doch wäre wiederum — so eng hängt das Ver¬ derben an dem Schönen — die edle Geistesblüthe, um die wir Griechenland beneiden möchten, nie möglich gewesen ohne eine freie Bevölkerung, welche Hunderttausende von Sklaven für sich schaffen ließ, und nie möglich gewesen wäre ohne diese jene ätherische Demokratie, die einen wunderbaren Staatsbäu errichtete und in einer jetzt ganz undenkbaren Weise die gesammte freie Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/126>, abgerufen am 28.12.2024.