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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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so ist das Erhabenste, was er zu sagen ver mag, nur ein schwacher Ausdruck
desjenigen, was die Religion dem Geiste zu denken und zu empfinden giebt.
Wie niederschlagend muß ihm also der Gedanke sein, daß ihm gleichwohl die
Meisten dies Wenige nicht werden nachempfinden können! Er muß der mora¬
lischen Absicht, der größten Anzahl nützlich zu werden, nicht allein viele poetische
Schönheiten, sondern auch eine andre gleichfalls moralische Absicht aufopfern:
diejenigen, die erhabner denken, in einem höhern Grade zu rühren."

"Vor allem müssen die Kirchenlieder das Herz bewegen. Fast alle Men¬
schen sind mehr zur Empfindung als zum Nachdenken gemacht. Auch ist die
wahre Anbetung mehr Herz als Betrachtung. Es ist sonderbar, daß Männer,
denen ich ihre Frömmigkeit gar nicht absprechen will, und die so oft die Offen¬
barung lesen, dies Master der erhabensten und sanftesten Schreibart, daß diese
Männer die Kühnheit gehabt haben, so klein und so platt von Gott zu denken.
Sie entschuldigen sich damit, daß sie sich zu den meisten haben herunterlassen
müssen: aber die meisten haben mehr natürliches Gefühl von dem, was wahr,
gut und rührend ist, und selbst mehr Empfindung von der Religion, als man
denkt." --

"Ein Lied ist ein Gebet. Der Geist kann nach guten Handlungen nichts
Größeres thun als beten. Wie groß ist es, mit Gott reden! und sollten wir
nicht alle Kräfte anstrengen, es einigermaßen würdig zu thun?" -- "Niemand,
der es nicht von ganzem Herzen mit der Religion meint, kann ein echtes
Kirchenlied machen: so genial er sein mag, der echte Christ wird das Unwahre
und Hohle empfinden."

"Unser Kirchenlied ist der Ausdruck der Empfindungen des Neuen Testa¬
ments. Die Gläubigen des Alten Testaments, selbst diejenigen, die Gott seiner
Eingebung würdigte, wußten nicht soviel von dem In ersten der Religion, der
Erlösung, als die Gläubigen des Neuen Testaments; sie sahen sie nur von
sern und wie im Schatten. Daher ist die erste und die zweite Offenbarung
bis auf die Art zu denken und den Ausdruck verschieden. Ich werde sein
der ich sein werde! ist der Haupttor des ersten Testaments; er erfüllt uns
mit Ehrfurcht und Erstaunen. Das Neue Testament thut dies zwar auch;
aber Gott hat sich zugleich ganz zu uns heruntergelassen. Unsre Anbetung
wird oft Entzückung: das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Preis
und Ehre!"

Klopstocks Lieder sprechen eine edle Gesinnung aus und sind nebenbei
vollkommen rechtgläubig; aber sie sind mehr gedacht als gefühlt, und man
werte, daß der Dichter sich den Schwung, den er für nothwendig hält und
der Gemeinde zumuthet, erst künstlich hat geben müssen: bei den alten Lieder-


so ist das Erhabenste, was er zu sagen ver mag, nur ein schwacher Ausdruck
desjenigen, was die Religion dem Geiste zu denken und zu empfinden giebt.
Wie niederschlagend muß ihm also der Gedanke sein, daß ihm gleichwohl die
Meisten dies Wenige nicht werden nachempfinden können! Er muß der mora¬
lischen Absicht, der größten Anzahl nützlich zu werden, nicht allein viele poetische
Schönheiten, sondern auch eine andre gleichfalls moralische Absicht aufopfern:
diejenigen, die erhabner denken, in einem höhern Grade zu rühren."

„Vor allem müssen die Kirchenlieder das Herz bewegen. Fast alle Men¬
schen sind mehr zur Empfindung als zum Nachdenken gemacht. Auch ist die
wahre Anbetung mehr Herz als Betrachtung. Es ist sonderbar, daß Männer,
denen ich ihre Frömmigkeit gar nicht absprechen will, und die so oft die Offen¬
barung lesen, dies Master der erhabensten und sanftesten Schreibart, daß diese
Männer die Kühnheit gehabt haben, so klein und so platt von Gott zu denken.
Sie entschuldigen sich damit, daß sie sich zu den meisten haben herunterlassen
müssen: aber die meisten haben mehr natürliches Gefühl von dem, was wahr,
gut und rührend ist, und selbst mehr Empfindung von der Religion, als man
denkt." —

„Ein Lied ist ein Gebet. Der Geist kann nach guten Handlungen nichts
Größeres thun als beten. Wie groß ist es, mit Gott reden! und sollten wir
nicht alle Kräfte anstrengen, es einigermaßen würdig zu thun?" — „Niemand,
der es nicht von ganzem Herzen mit der Religion meint, kann ein echtes
Kirchenlied machen: so genial er sein mag, der echte Christ wird das Unwahre
und Hohle empfinden."

„Unser Kirchenlied ist der Ausdruck der Empfindungen des Neuen Testa¬
ments. Die Gläubigen des Alten Testaments, selbst diejenigen, die Gott seiner
Eingebung würdigte, wußten nicht soviel von dem In ersten der Religion, der
Erlösung, als die Gläubigen des Neuen Testaments; sie sahen sie nur von
sern und wie im Schatten. Daher ist die erste und die zweite Offenbarung
bis auf die Art zu denken und den Ausdruck verschieden. Ich werde sein
der ich sein werde! ist der Haupttor des ersten Testaments; er erfüllt uns
mit Ehrfurcht und Erstaunen. Das Neue Testament thut dies zwar auch;
aber Gott hat sich zugleich ganz zu uns heruntergelassen. Unsre Anbetung
wird oft Entzückung: das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Preis
und Ehre!"

Klopstocks Lieder sprechen eine edle Gesinnung aus und sind nebenbei
vollkommen rechtgläubig; aber sie sind mehr gedacht als gefühlt, und man
werte, daß der Dichter sich den Schwung, den er für nothwendig hält und
der Gemeinde zumuthet, erst künstlich hat geben müssen: bei den alten Lieder-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/107>, abgerufen am 01.09.2024.