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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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hundert galt als ein hochzivilisirtes Zeitalter, Paris als eine hochzivilisirte
Stadt; sah man aber hinter die Koulissen, so entdeckte man Elend und Schlech¬
tigkeit, wovon minder kultivirte Völker keinen Begriff gehabt. Eben kamen
Weltumsegler aus der Südsee zurück, und schilderten die dortigen "Natur¬
menschen" in rosigen Bildern.

Das Wort mußte einmal gesprochen werden, und Rousseau war es, der
es aussprach: der Fortgang der Zivilisation vermehrt nicht, sondern vermin¬
dert das Glück und die Tugend der Menschen; um sie glücklich zu machen,
muß man den umgekehrten Weg einschlagen, man muß sie durch Erziehung
künstlich zur Natur zurückführen. Von Natur ist alles gut, alles entartet
unter den Händen der Menschen.

Es war eine tolle Sophistik, aber eine Sophistik des Herzens oder wenig¬
stens der Leidenschaft, eine wilde Deklamation, und doch von einem tiefen
Wahrheitsgefühl durchhaucht. Die Idee traf die Deutschen nicht unvorbe¬
reitet: führte ja der Pietismus zu demselben Ziel, wenn auch auf einem ent¬
gegengesetzten Wege.

Lessing gab April 1751 einen kurzen Auszug. "Rousseau hat Unrecht,
aber ich weiß keinen, der es mit mehr Vernunft hat!" "Ich finde sehr viel
erhabene Gesinnung darin, und eine männliche Beredsamkeit. Die Waffen,
mit welchen er die Künste und Wissenschaften bestürmt, sind nicht allezeit die
stärksten: gleichwohl empfindet man eine heimliche Ehrfurcht für einen Mann,
welcher der Tugend gegen alle gebilligten Vorurtheile das Wort redet, auch
wo er zu weit geht. -- Man könnte einwenden, daß die Aufnahme der Wissen¬
schaften und der Verfall der Sitten und des Staats zwei Sachen sind, welche
einander begleiten, ohne Ursache und Wirkung zu sein. Alles in der Welt hat
seinen Zeitpunkt: ein Staat wächst, bis er diesen erreicht hat, und so lange
er wächst, wachsen auch Wissenschaften und Künste mit ihm. Stürzt er also,
so stürzt er nicht, weil diese ihn untergruben, sondern weil er nicht eines
ewigen Wachsthums sähig ist. -- Ferner: wenn die kriegerischen Eigenschaften
durch die Gemeinmcichung der Wissenschaften verschwinden, so ist noch die
Frage, ob wir es für ein Glück oder ein Unglück halten sollen? Sind wir
ans der Welt, daß wir einander umbringen sollen?"

Die Hälfte seiner Anzeigen im Lauf des Jahres bezog sich auf theologische
Streitschriften, er hatte es mit Orthodoxen und Pietisten, mit Wolficmern und
Chiliasten, mit Schwärmern und Klopffechtern jeder Art zu thun; sein eigner
Standpunkt tritt nicht deutlich hervor. Er versuchte es in einem Gedicht "über
die Religion", kam aber nur zur Ausarbeitung der Zweifel, welche die Be¬
trachtung des Weltlaufs in einem sittlichen Gemüth hervorruft. Er nimmt es
ernst genug und der Schluß ist nicht tröstlich.


hundert galt als ein hochzivilisirtes Zeitalter, Paris als eine hochzivilisirte
Stadt; sah man aber hinter die Koulissen, so entdeckte man Elend und Schlech¬
tigkeit, wovon minder kultivirte Völker keinen Begriff gehabt. Eben kamen
Weltumsegler aus der Südsee zurück, und schilderten die dortigen „Natur¬
menschen" in rosigen Bildern.

Das Wort mußte einmal gesprochen werden, und Rousseau war es, der
es aussprach: der Fortgang der Zivilisation vermehrt nicht, sondern vermin¬
dert das Glück und die Tugend der Menschen; um sie glücklich zu machen,
muß man den umgekehrten Weg einschlagen, man muß sie durch Erziehung
künstlich zur Natur zurückführen. Von Natur ist alles gut, alles entartet
unter den Händen der Menschen.

Es war eine tolle Sophistik, aber eine Sophistik des Herzens oder wenig¬
stens der Leidenschaft, eine wilde Deklamation, und doch von einem tiefen
Wahrheitsgefühl durchhaucht. Die Idee traf die Deutschen nicht unvorbe¬
reitet: führte ja der Pietismus zu demselben Ziel, wenn auch auf einem ent¬
gegengesetzten Wege.

Lessing gab April 1751 einen kurzen Auszug. „Rousseau hat Unrecht,
aber ich weiß keinen, der es mit mehr Vernunft hat!" „Ich finde sehr viel
erhabene Gesinnung darin, und eine männliche Beredsamkeit. Die Waffen,
mit welchen er die Künste und Wissenschaften bestürmt, sind nicht allezeit die
stärksten: gleichwohl empfindet man eine heimliche Ehrfurcht für einen Mann,
welcher der Tugend gegen alle gebilligten Vorurtheile das Wort redet, auch
wo er zu weit geht. — Man könnte einwenden, daß die Aufnahme der Wissen¬
schaften und der Verfall der Sitten und des Staats zwei Sachen sind, welche
einander begleiten, ohne Ursache und Wirkung zu sein. Alles in der Welt hat
seinen Zeitpunkt: ein Staat wächst, bis er diesen erreicht hat, und so lange
er wächst, wachsen auch Wissenschaften und Künste mit ihm. Stürzt er also,
so stürzt er nicht, weil diese ihn untergruben, sondern weil er nicht eines
ewigen Wachsthums sähig ist. — Ferner: wenn die kriegerischen Eigenschaften
durch die Gemeinmcichung der Wissenschaften verschwinden, so ist noch die
Frage, ob wir es für ein Glück oder ein Unglück halten sollen? Sind wir
ans der Welt, daß wir einander umbringen sollen?"

Die Hälfte seiner Anzeigen im Lauf des Jahres bezog sich auf theologische
Streitschriften, er hatte es mit Orthodoxen und Pietisten, mit Wolficmern und
Chiliasten, mit Schwärmern und Klopffechtern jeder Art zu thun; sein eigner
Standpunkt tritt nicht deutlich hervor. Er versuchte es in einem Gedicht „über
die Religion", kam aber nur zur Ausarbeitung der Zweifel, welche die Be¬
trachtung des Weltlaufs in einem sittlichen Gemüth hervorruft. Er nimmt es
ernst genug und der Schluß ist nicht tröstlich.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/456>, abgerufen am 27.09.2024.