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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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war eine schlicht bürgerliche; er lebte als Kantor an der Thomasschule in
Leipzig in sehr bescheidenen Verhältnissen; die Mittel, dnrch die er seine unge-
heure Welt in Erscheinung umsetzen sollte, waren kärglich bis zum Unglaub¬
lichen. Er galt als guter Organist und fleißiger Kompositenr: "er schrieb"
soll ein späterer Küster erzählt haben, "wöchentlich eine Motette; freilich war
es auch danach!" Nur selten machte er eine kleine Reise. Er hatte neun
Töchter und elf Söhne, sämmtlich Musiker; sein sittliches Leben war das ein¬
fachste, das man sich vorstellen kann.

Beide hatten sich zum religiösen Oratorium gewandt. Bach's "Matthäns¬
passion" wurde zuerst 1729 aufgeführt, Händel's "Messias" 1741; später
folgte Graun (34 I.) in Berlin mit dem "Tod Jesu." Händel war von der
Oper ausgegangen, Bach vom Kirchenlied. Er brauchte sich den Glauben aus
künstlerischen Zwecken nicht erst anzueignen, er lebte fest in seiner Kirche, er
theilte mit Luther die Glaubenswelt wie die Tonwelt. Aber er war dnrch
seine Kunst, in der er ausschließlich lebte, in alle Höhen und Tiefen der Mystik
eingedrungen; was kein Sterblicher aussprechen kann, athmete in den Fugen
seines polyphonen Gesangs und durchdrang mit unwiderstehlicher Gewalt die
Seele. Er verfügte über den Stab des Genius, der wirklich Wunder thut.

Dieser Wunderwelt der Töne blieb Klopstock bei seinem zweijährigen
Aufenthalt in Leipzig nicht fern; er bekennt einmal ausdrücklich, Bach sei oft
sein Vorbild bei Erfindung neuer Maße gewesen. Er lernte später auch
Händel kennen und verehrte ihn. Nachklänge finden sich genug in seinen
späteren Oden.

"O, es weiß der nicht, was es ist, sich verlieren in Wonne, wer die Re¬
ligion, begleitet von der geweihten Musik und von des Psalms heiligem Flug,
nicht gefühlt hat, sanft nicht gebebt, wenn die Schciaren in dem Tempel feiernd
sangen! und, ward dies Meer still, Chöre vom Himmel herab! -- Täusche
mich lang, seliger Traum! Ach ich höre Christengesang!... Mit des Herzens
Einfalt vereint sich die Einfalt des Gesangs, und mehr Hoheit als alle Welt
hat, hebt sie gen Himmel empor. Wonnegefühl hebt sie empor, und es fließen
Thränen ins Lied ... Oben beginnt jetzo der Psalm, den die Chöre singen,
Musik, als ob kunstlos aus der Seele schnell sie Ströme... Kraftvoll und tief
dringt sie ins Herz! sie verachtet alles, was uns bis zur Thräne nicht er¬
hebt, was nicht füllet den Geist mit Schauer oder mit himmlischem Ernst.
Himmlischer Ernst donet herab mit des Festes hohem Gesang. Prophezeiung
und Erfüllung wechseln Chöre mit Chören. Gnade singen sie dann und
Gericht."

Was ist das anders, als eine geistvolle Beschreibung der polyphonen Kunst¬
werke von Sebastian Bach!


war eine schlicht bürgerliche; er lebte als Kantor an der Thomasschule in
Leipzig in sehr bescheidenen Verhältnissen; die Mittel, dnrch die er seine unge-
heure Welt in Erscheinung umsetzen sollte, waren kärglich bis zum Unglaub¬
lichen. Er galt als guter Organist und fleißiger Kompositenr: „er schrieb"
soll ein späterer Küster erzählt haben, „wöchentlich eine Motette; freilich war
es auch danach!" Nur selten machte er eine kleine Reise. Er hatte neun
Töchter und elf Söhne, sämmtlich Musiker; sein sittliches Leben war das ein¬
fachste, das man sich vorstellen kann.

Beide hatten sich zum religiösen Oratorium gewandt. Bach's „Matthäns¬
passion" wurde zuerst 1729 aufgeführt, Händel's „Messias" 1741; später
folgte Graun (34 I.) in Berlin mit dem „Tod Jesu." Händel war von der
Oper ausgegangen, Bach vom Kirchenlied. Er brauchte sich den Glauben aus
künstlerischen Zwecken nicht erst anzueignen, er lebte fest in seiner Kirche, er
theilte mit Luther die Glaubenswelt wie die Tonwelt. Aber er war dnrch
seine Kunst, in der er ausschließlich lebte, in alle Höhen und Tiefen der Mystik
eingedrungen; was kein Sterblicher aussprechen kann, athmete in den Fugen
seines polyphonen Gesangs und durchdrang mit unwiderstehlicher Gewalt die
Seele. Er verfügte über den Stab des Genius, der wirklich Wunder thut.

Dieser Wunderwelt der Töne blieb Klopstock bei seinem zweijährigen
Aufenthalt in Leipzig nicht fern; er bekennt einmal ausdrücklich, Bach sei oft
sein Vorbild bei Erfindung neuer Maße gewesen. Er lernte später auch
Händel kennen und verehrte ihn. Nachklänge finden sich genug in seinen
späteren Oden.

„O, es weiß der nicht, was es ist, sich verlieren in Wonne, wer die Re¬
ligion, begleitet von der geweihten Musik und von des Psalms heiligem Flug,
nicht gefühlt hat, sanft nicht gebebt, wenn die Schciaren in dem Tempel feiernd
sangen! und, ward dies Meer still, Chöre vom Himmel herab! — Täusche
mich lang, seliger Traum! Ach ich höre Christengesang!... Mit des Herzens
Einfalt vereint sich die Einfalt des Gesangs, und mehr Hoheit als alle Welt
hat, hebt sie gen Himmel empor. Wonnegefühl hebt sie empor, und es fließen
Thränen ins Lied ... Oben beginnt jetzo der Psalm, den die Chöre singen,
Musik, als ob kunstlos aus der Seele schnell sie Ströme... Kraftvoll und tief
dringt sie ins Herz! sie verachtet alles, was uns bis zur Thräne nicht er¬
hebt, was nicht füllet den Geist mit Schauer oder mit himmlischem Ernst.
Himmlischer Ernst donet herab mit des Festes hohem Gesang. Prophezeiung
und Erfüllung wechseln Chöre mit Chören. Gnade singen sie dann und
Gericht."

Was ist das anders, als eine geistvolle Beschreibung der polyphonen Kunst¬
werke von Sebastian Bach!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/379>, abgerufen am 20.10.2024.