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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Ungeheuer, dich an! verworfener, schwarzer Verbrecher, hilf mir! ich leide die Pein
des ewigen rächenden Todes! Vormals konnt'ich mit heißem, grimmigem Hasse
dich hassen, jetzt vermag ich's nicht mehr! ich will dir fluchen und kann nicht."

Aber auch diese Flüche werden zuletzt sehr eintönig. Wie farbenreich sieht
dagegen Dante's Hölle aus! wie lebensvoll selbst die Tnrnierspiele in der
Unterwelt bei Milton! Die Kühnheit des Britten, seine Teufel mit Kanonen
gegen die himmlische Heerschaar vorgehn zu lassen, wäre dem spiritualistischen
Deutschen gemein vorgekommen: bei ihm wird der Kampf mit erhabenen oder
verruchten Blicken, ganz unkörperlich geführt. Wir hören die Teufel wohl toben
und lärmen, aber in ihre Motive, also in ihren Charakter, werden wir
ebenso wenig eingeweiht, als in die Motive des dreieinigen Gottes.

Als Epos betrachtet, im Sinn des Homer, ist der "Messias" von ge¬
ringem Werth; als mystisches Religionsgedicht, im Sinn der "göttlichen Ko¬
mödie" von nicht größerem: worin liegt also sein Gehalt?

Man höre, zum Posaunenklaug, die Stimme des Erzengels, als der ent¬
scheidende Akt herankommt: "Feiert! Es flamm' Anbetung der große, der Sabbat
des Bundes, von den Sonnen zum Thron des Richters! Die Stund' ist ge¬
kommen! Feiert! Die Stunde der Nacht ist gekommen, sie führen das Opfer!

Man hört wirklich den Posaunenklang. Die wahre Bedeutung des Mes¬
sias ist eine musikalische. Klopstock war keine plastische, aber eine eminent
musikalische Natur. Er sprach seine Begeisterung für die Musik wiederholt in
seinen Liedern aus, er war überzeugt, daß im Himmel das ganze Leben als
Musik sich gestalten werde; er suchte das Erhabene, dessen Drang seine Seele
füllte, als Laut zu ergießen.

"Es erreicht die Farbe dich nicht, des Marmors feilbare Last, Göttin
Sprache! dich nicht . . . Dem Erfinder, welcher dnrch dich des Hörers Seele
bewegt, that die Schöpfung sich auf! . . Was er sagt, entschwebt mit der
Menschenstimme Gewalt, mit ihrem höchsten Reiz, wenn sie Gesang hinströmt,
und inniger so in die Seele sich ergießt."

Hier nun hatte der religiöse Dichter ein großes, ein gewaltiges Vorbild.
In dem sittlichen Leben hatte der Pietismus mehr Verwirrung als Heil ge¬
stiftet, der Tonkunst hatte er neue Schwingen gegeben. Was die erste Hälfte
des 18. Jahrunderts sonst herangebracht, ist von geringem Belang: in den
Tonschöpfungen Sebastian Bach's athmet eine Welt, deren unermeßliche
Tiefe noch heute nicht erschöpft ist. Er würde wie ein Wunder erscheinen,
wenn nicht Händel neben ihm stünde.

Beide waren 63 Jahre alt, bereits halb erblindet. Händel hatte ein
glänzendes, abenteuerliches Leben geführt; er stand jetzt seit langer Zeit an der
Spitze eines großen musikalischen Instituts in London. Bach's Existenz


Ungeheuer, dich an! verworfener, schwarzer Verbrecher, hilf mir! ich leide die Pein
des ewigen rächenden Todes! Vormals konnt'ich mit heißem, grimmigem Hasse
dich hassen, jetzt vermag ich's nicht mehr! ich will dir fluchen und kann nicht."

Aber auch diese Flüche werden zuletzt sehr eintönig. Wie farbenreich sieht
dagegen Dante's Hölle aus! wie lebensvoll selbst die Tnrnierspiele in der
Unterwelt bei Milton! Die Kühnheit des Britten, seine Teufel mit Kanonen
gegen die himmlische Heerschaar vorgehn zu lassen, wäre dem spiritualistischen
Deutschen gemein vorgekommen: bei ihm wird der Kampf mit erhabenen oder
verruchten Blicken, ganz unkörperlich geführt. Wir hören die Teufel wohl toben
und lärmen, aber in ihre Motive, also in ihren Charakter, werden wir
ebenso wenig eingeweiht, als in die Motive des dreieinigen Gottes.

Als Epos betrachtet, im Sinn des Homer, ist der „Messias" von ge¬
ringem Werth; als mystisches Religionsgedicht, im Sinn der „göttlichen Ko¬
mödie" von nicht größerem: worin liegt also sein Gehalt?

Man höre, zum Posaunenklaug, die Stimme des Erzengels, als der ent¬
scheidende Akt herankommt: „Feiert! Es flamm' Anbetung der große, der Sabbat
des Bundes, von den Sonnen zum Thron des Richters! Die Stund' ist ge¬
kommen! Feiert! Die Stunde der Nacht ist gekommen, sie führen das Opfer!

Man hört wirklich den Posaunenklang. Die wahre Bedeutung des Mes¬
sias ist eine musikalische. Klopstock war keine plastische, aber eine eminent
musikalische Natur. Er sprach seine Begeisterung für die Musik wiederholt in
seinen Liedern aus, er war überzeugt, daß im Himmel das ganze Leben als
Musik sich gestalten werde; er suchte das Erhabene, dessen Drang seine Seele
füllte, als Laut zu ergießen.

„Es erreicht die Farbe dich nicht, des Marmors feilbare Last, Göttin
Sprache! dich nicht . . . Dem Erfinder, welcher dnrch dich des Hörers Seele
bewegt, that die Schöpfung sich auf! . . Was er sagt, entschwebt mit der
Menschenstimme Gewalt, mit ihrem höchsten Reiz, wenn sie Gesang hinströmt,
und inniger so in die Seele sich ergießt."

Hier nun hatte der religiöse Dichter ein großes, ein gewaltiges Vorbild.
In dem sittlichen Leben hatte der Pietismus mehr Verwirrung als Heil ge¬
stiftet, der Tonkunst hatte er neue Schwingen gegeben. Was die erste Hälfte
des 18. Jahrunderts sonst herangebracht, ist von geringem Belang: in den
Tonschöpfungen Sebastian Bach's athmet eine Welt, deren unermeßliche
Tiefe noch heute nicht erschöpft ist. Er würde wie ein Wunder erscheinen,
wenn nicht Händel neben ihm stünde.

Beide waren 63 Jahre alt, bereits halb erblindet. Händel hatte ein
glänzendes, abenteuerliches Leben geführt; er stand jetzt seit langer Zeit an der
Spitze eines großen musikalischen Instituts in London. Bach's Existenz


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[0378] Ungeheuer, dich an! verworfener, schwarzer Verbrecher, hilf mir! ich leide die Pein des ewigen rächenden Todes! Vormals konnt'ich mit heißem, grimmigem Hasse dich hassen, jetzt vermag ich's nicht mehr! ich will dir fluchen und kann nicht." Aber auch diese Flüche werden zuletzt sehr eintönig. Wie farbenreich sieht dagegen Dante's Hölle aus! wie lebensvoll selbst die Tnrnierspiele in der Unterwelt bei Milton! Die Kühnheit des Britten, seine Teufel mit Kanonen gegen die himmlische Heerschaar vorgehn zu lassen, wäre dem spiritualistischen Deutschen gemein vorgekommen: bei ihm wird der Kampf mit erhabenen oder verruchten Blicken, ganz unkörperlich geführt. Wir hören die Teufel wohl toben und lärmen, aber in ihre Motive, also in ihren Charakter, werden wir ebenso wenig eingeweiht, als in die Motive des dreieinigen Gottes. Als Epos betrachtet, im Sinn des Homer, ist der „Messias" von ge¬ ringem Werth; als mystisches Religionsgedicht, im Sinn der „göttlichen Ko¬ mödie" von nicht größerem: worin liegt also sein Gehalt? Man höre, zum Posaunenklaug, die Stimme des Erzengels, als der ent¬ scheidende Akt herankommt: „Feiert! Es flamm' Anbetung der große, der Sabbat des Bundes, von den Sonnen zum Thron des Richters! Die Stund' ist ge¬ kommen! Feiert! Die Stunde der Nacht ist gekommen, sie führen das Opfer! Man hört wirklich den Posaunenklang. Die wahre Bedeutung des Mes¬ sias ist eine musikalische. Klopstock war keine plastische, aber eine eminent musikalische Natur. Er sprach seine Begeisterung für die Musik wiederholt in seinen Liedern aus, er war überzeugt, daß im Himmel das ganze Leben als Musik sich gestalten werde; er suchte das Erhabene, dessen Drang seine Seele füllte, als Laut zu ergießen. „Es erreicht die Farbe dich nicht, des Marmors feilbare Last, Göttin Sprache! dich nicht . . . Dem Erfinder, welcher dnrch dich des Hörers Seele bewegt, that die Schöpfung sich auf! . . Was er sagt, entschwebt mit der Menschenstimme Gewalt, mit ihrem höchsten Reiz, wenn sie Gesang hinströmt, und inniger so in die Seele sich ergießt." Hier nun hatte der religiöse Dichter ein großes, ein gewaltiges Vorbild. In dem sittlichen Leben hatte der Pietismus mehr Verwirrung als Heil ge¬ stiftet, der Tonkunst hatte er neue Schwingen gegeben. Was die erste Hälfte des 18. Jahrunderts sonst herangebracht, ist von geringem Belang: in den Tonschöpfungen Sebastian Bach's athmet eine Welt, deren unermeßliche Tiefe noch heute nicht erschöpft ist. Er würde wie ein Wunder erscheinen, wenn nicht Händel neben ihm stünde. Beide waren 63 Jahre alt, bereits halb erblindet. Händel hatte ein glänzendes, abenteuerliches Leben geführt; er stand jetzt seit langer Zeit an der Spitze eines großen musikalischen Instituts in London. Bach's Existenz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/378>, abgerufen am 27.09.2024.