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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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bei unsern Primanern und Sekundanern geltend zu machen im Begriff steht,
ist vorstehend genanntes Büchlein eine doppelt willkommene Erscheinung. Es
ist nur zu verwundern, daß nicht schon früher ernstere Schritte gethan worden
sind, namentlich von Pädagogen, in der langen Kette der Erziehungstechuik dieses
mangelnde Glied zu ergänzen und damit die Gefahren für die gute Sitte un¬
serer Jugend zu bannen. Denn die Versuche, die von Niese, Hille, Curth U.A.
gemacht worden sind, genügen, ganz abgesehen von den formalen, nament¬
lich textualen Mängeln, mit denen die gegenwärtige literarische Arbeit an dem
Liede behaftet ist, auch in materialer Beziehung nicht, um das Bedürfniß und
die Ansprüche zu befriedige::, welche die sommerlichen Turm- und Auffahrten,
gemeinsame Spaziergänge, ja auch gesellige Vereinigungen an die kehlenfrische,
liederlustige Jugend stellen. Bisher war die Tradition, und meistens eine höchst
einseitige und beschränkte Tradition, die Lehrmeistern:, deren Joch auf der einen
oder andern Schule lag, und höchstens zum Liede: "Nur immer langsam voran"
lieferte der eine oder andre Pfiffikus in Prima oder Sekunda Schätzens- und
nachsingenswerthe Beiträge. Wo dieser sinnerfreuende Gott eine Stätte und
Pflege findet, da wird's mit der Macht der Tradition und allem Griesgram
zweifellos vorüber sei::. -- Da haben wir aus 204 Oktavseite:: 275 fast aus¬
schließlich lustige Lieder, unter ihnen wahre Blüthen echten Humors und
lachenden Blödsinns*". Wanderlieder, denen der leichte Anflug des Ernstes
den sie verrathen, recht gut zu Gesichte steht, leiten die Sammlung ein**), und
das Schlußlied von Hans Leo Haßler, die herrliche Weise ans Maria, geht
zum guten Schlüsse in seiner Endstrophe: "Gott woll's vor Leid bewahren
durch sein göttliche Macht." gleichfalls in ernsten Akkorden. Aber zwischen
diesem Beschlusse des "Antiken und Altdeutschen" (xx. 189--204), welchem
Pindars erste pythische Ode ("Lh^o^" ^o^t"-/5, '-^^^ol^o? x"t so?r>!,oz""-
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<56^5 x"r"^vo."), der Sophokleische Chor auf das roßprangende, epheuwuchernde
Kolonos und altdeutsche Lieder vom 14.--16. Jahrhundert angehören, und dem
"frohen Wandersmann" Mendelssohn's, welche Fülle frischester und doch harm¬
losester Ungebundenheit! Von der Straße, vom Felde, aus der Werkstatt, aus
allen Schichten des singenden Volkes, von der Schulbank und aus den be¬
stäubten Walzern der Bibliothek sind die frohen Weisen gesammelt, die lustigen
Wandervögel eingefangen und hinter die wohlgefügten Gitter des Notensystems
zu Nutz und Frommen von männiglich auf dauernde Zeiten festgesetzt. Dem




P. Red. *) Allerdings auch solche höchsten Blödsinns.
**
D, Red. ) Fast ganz fehlt das patriotische Lied.

bei unsern Primanern und Sekundanern geltend zu machen im Begriff steht,
ist vorstehend genanntes Büchlein eine doppelt willkommene Erscheinung. Es
ist nur zu verwundern, daß nicht schon früher ernstere Schritte gethan worden
sind, namentlich von Pädagogen, in der langen Kette der Erziehungstechuik dieses
mangelnde Glied zu ergänzen und damit die Gefahren für die gute Sitte un¬
serer Jugend zu bannen. Denn die Versuche, die von Niese, Hille, Curth U.A.
gemacht worden sind, genügen, ganz abgesehen von den formalen, nament¬
lich textualen Mängeln, mit denen die gegenwärtige literarische Arbeit an dem
Liede behaftet ist, auch in materialer Beziehung nicht, um das Bedürfniß und
die Ansprüche zu befriedige::, welche die sommerlichen Turm- und Auffahrten,
gemeinsame Spaziergänge, ja auch gesellige Vereinigungen an die kehlenfrische,
liederlustige Jugend stellen. Bisher war die Tradition, und meistens eine höchst
einseitige und beschränkte Tradition, die Lehrmeistern:, deren Joch auf der einen
oder andern Schule lag, und höchstens zum Liede: „Nur immer langsam voran"
lieferte der eine oder andre Pfiffikus in Prima oder Sekunda Schätzens- und
nachsingenswerthe Beiträge. Wo dieser sinnerfreuende Gott eine Stätte und
Pflege findet, da wird's mit der Macht der Tradition und allem Griesgram
zweifellos vorüber sei::. — Da haben wir aus 204 Oktavseite:: 275 fast aus¬
schließlich lustige Lieder, unter ihnen wahre Blüthen echten Humors und
lachenden Blödsinns*». Wanderlieder, denen der leichte Anflug des Ernstes
den sie verrathen, recht gut zu Gesichte steht, leiten die Sammlung ein**), und
das Schlußlied von Hans Leo Haßler, die herrliche Weise ans Maria, geht
zum guten Schlüsse in seiner Endstrophe: „Gott woll's vor Leid bewahren
durch sein göttliche Macht." gleichfalls in ernsten Akkorden. Aber zwischen
diesem Beschlusse des „Antiken und Altdeutschen" (xx. 189—204), welchem
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Kolonos und altdeutsche Lieder vom 14.—16. Jahrhundert angehören, und dem
„frohen Wandersmann" Mendelssohn's, welche Fülle frischester und doch harm¬
losester Ungebundenheit! Von der Straße, vom Felde, aus der Werkstatt, aus
allen Schichten des singenden Volkes, von der Schulbank und aus den be¬
stäubten Walzern der Bibliothek sind die frohen Weisen gesammelt, die lustigen
Wandervögel eingefangen und hinter die wohlgefügten Gitter des Notensystems
zu Nutz und Frommen von männiglich auf dauernde Zeiten festgesetzt. Dem




P. Red. *) Allerdings auch solche höchsten Blödsinns.
**
D, Red. ) Fast ganz fehlt das patriotische Lied.
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[0364] bei unsern Primanern und Sekundanern geltend zu machen im Begriff steht, ist vorstehend genanntes Büchlein eine doppelt willkommene Erscheinung. Es ist nur zu verwundern, daß nicht schon früher ernstere Schritte gethan worden sind, namentlich von Pädagogen, in der langen Kette der Erziehungstechuik dieses mangelnde Glied zu ergänzen und damit die Gefahren für die gute Sitte un¬ serer Jugend zu bannen. Denn die Versuche, die von Niese, Hille, Curth U.A. gemacht worden sind, genügen, ganz abgesehen von den formalen, nament¬ lich textualen Mängeln, mit denen die gegenwärtige literarische Arbeit an dem Liede behaftet ist, auch in materialer Beziehung nicht, um das Bedürfniß und die Ansprüche zu befriedige::, welche die sommerlichen Turm- und Auffahrten, gemeinsame Spaziergänge, ja auch gesellige Vereinigungen an die kehlenfrische, liederlustige Jugend stellen. Bisher war die Tradition, und meistens eine höchst einseitige und beschränkte Tradition, die Lehrmeistern:, deren Joch auf der einen oder andern Schule lag, und höchstens zum Liede: „Nur immer langsam voran" lieferte der eine oder andre Pfiffikus in Prima oder Sekunda Schätzens- und nachsingenswerthe Beiträge. Wo dieser sinnerfreuende Gott eine Stätte und Pflege findet, da wird's mit der Macht der Tradition und allem Griesgram zweifellos vorüber sei::. — Da haben wir aus 204 Oktavseite:: 275 fast aus¬ schließlich lustige Lieder, unter ihnen wahre Blüthen echten Humors und lachenden Blödsinns*». Wanderlieder, denen der leichte Anflug des Ernstes den sie verrathen, recht gut zu Gesichte steht, leiten die Sammlung ein**), und das Schlußlied von Hans Leo Haßler, die herrliche Weise ans Maria, geht zum guten Schlüsse in seiner Endstrophe: „Gott woll's vor Leid bewahren durch sein göttliche Macht." gleichfalls in ernsten Akkorden. Aber zwischen diesem Beschlusse des „Antiken und Altdeutschen" (xx. 189—204), welchem Pindars erste pythische Ode („Lh^o^« ^o^t»-/5, '-^^^ol^o? x«t so?r>!,oz««- ^nov o^v^Ao^ Mo»<5c> x^er^vo") in Originaltext und -Melodie, Dionhsios- hymnus auf Kalliopa und Latos Sohn l„'^et<5s, ^o5<5« ^vt ^o>i.?r^? <56^5 x«r«^vo."), der Sophokleische Chor auf das roßprangende, epheuwuchernde Kolonos und altdeutsche Lieder vom 14.—16. Jahrhundert angehören, und dem „frohen Wandersmann" Mendelssohn's, welche Fülle frischester und doch harm¬ losester Ungebundenheit! Von der Straße, vom Felde, aus der Werkstatt, aus allen Schichten des singenden Volkes, von der Schulbank und aus den be¬ stäubten Walzern der Bibliothek sind die frohen Weisen gesammelt, die lustigen Wandervögel eingefangen und hinter die wohlgefügten Gitter des Notensystems zu Nutz und Frommen von männiglich auf dauernde Zeiten festgesetzt. Dem P. Red. *) Allerdings auch solche höchsten Blödsinns. ** D, Red. ) Fast ganz fehlt das patriotische Lied.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/364>, abgerufen am 19.10.2024.