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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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harten Provinzialstadt, der sich auf seine alten Toge vor lieber Langerweile
noch auf das Schriftstellern legen will, sucht brieflich uach, "ihm gefälligst alle
diejenigen im Besitz der Bibliothek befindlichen Bücher bezeichnen zu wollen,
in denen er etwas über die Geschichte seines Geschlechtes finden kann," Aehn-
liche Ziunnthungen sind es, wenn der Bibliothekar aus einem Sammelwerke
oder einer Zeitschrift von fünfzig Jahrgängen, aus der sechzigbändigen Gesammt-
ausgabe eines Schriftstellers dem Entleiher eine einzelne Schrift Heranssuchen
soll, bloß weil dieser zu bequem gewesen ist, beim Abschreiben des Zitates sich
die Zahl des Bandes zu notiren. Um alle diese Käuze befriedigen zu können,
müßten unsere öffentlichen Bibliotheken das zehnfache Personal haben. In
der Regel finden denn auch derartige Wünsche nur sehr partielle Erfüllung
oder werden wohl auch, wie der Brief des Herrn Majors, einfach ad aow
gelegt. Bedenkt man, wie oft obendrein hinter solchen naiven Zumuthungen
keineswegs ernstes wissenschaftliches Interesse, sondern nur oberflächliches Ge¬
lüsten, bloße Neugierde steckt, so müßte man ein Thor fein, wenn man die kost¬
bare Zeit an die Befriedigung derselben wenden wollte. Man nehme folgenden,
so gut wie alle anderen, ans der Praxis geschöpften Fall. Ein junger Kauf¬
mann wünscht irgend einen Aufsatz von Voltaire zu lesen, dessen Titel er an¬
giebt. Die Gesammtausgabe von Voltaire's Schriften hat 71 Bände. Man
führt also den Bittsteller an den Standort und fordert ihn ans, sich den ge¬
wünschten Aufsatz herauszusuchen. Wie er die lange Reihe Bände stehen
sieht, bekommt er plötzlich Beklemmungen und empfiehlt sich mit den Worten:
"Nein, nein, so ängstlich ist es nicht, ich brauche ihn nicht so nöthig." Der
Bibliothekar also soll sich hinstellen und eine Viertelstunde lang blättern, um
einen Wunsch zu befriedigen, mit dem es dem Wünschenden so wenig Ernst
ist, daß er selbst keine Minute an seiue Erfüllung zu wenden Lust hat.

Die unerfreulichste, aber leider sehr zahlreiche Sorte von Bibliotheksbe¬
nutzern sind die, welche auf Bibliotheken suchen, was sie eigentlich nicht suchen
sollten, deshalb, weil sie es anständigerweise besitzen müßten. Es ist unglaub¬
lich, was für Bücher alles ans öffentlichen Bibliotheken begehrt werden, und
von was für Leuten! Zwar ist es nicht wahr, was ein deutscher Feuilletonist
dem andern nachschreibt, daß in Frankreich und England mehr Bücher gekauft
würden, als in Deutschland, daß jeder gebildete Franzose und Engländer eine
gewählte Bibliothek als eine Zierde seines Hauses betrachte. Die Literarsta-
tistik hat längst nachgewiesen, daß Deutschland, mit Abrechnung Oesterreichs
und der Schweiz, jährlich etwa 50 Prozent Bücher mehr produzirt als Frank¬
reich und England, daß diese Ueberlegenheit vor allem in der strengwissen-
schaftlichen und in der populärwissenschaftlichen, keineswegs aber in der eigent¬
lichen Bibliotheksliteratur besteht, daß im Gegentheil in der letzteren die Eng-


harten Provinzialstadt, der sich auf seine alten Toge vor lieber Langerweile
noch auf das Schriftstellern legen will, sucht brieflich uach, „ihm gefälligst alle
diejenigen im Besitz der Bibliothek befindlichen Bücher bezeichnen zu wollen,
in denen er etwas über die Geschichte seines Geschlechtes finden kann," Aehn-
liche Ziunnthungen sind es, wenn der Bibliothekar aus einem Sammelwerke
oder einer Zeitschrift von fünfzig Jahrgängen, aus der sechzigbändigen Gesammt-
ausgabe eines Schriftstellers dem Entleiher eine einzelne Schrift Heranssuchen
soll, bloß weil dieser zu bequem gewesen ist, beim Abschreiben des Zitates sich
die Zahl des Bandes zu notiren. Um alle diese Käuze befriedigen zu können,
müßten unsere öffentlichen Bibliotheken das zehnfache Personal haben. In
der Regel finden denn auch derartige Wünsche nur sehr partielle Erfüllung
oder werden wohl auch, wie der Brief des Herrn Majors, einfach ad aow
gelegt. Bedenkt man, wie oft obendrein hinter solchen naiven Zumuthungen
keineswegs ernstes wissenschaftliches Interesse, sondern nur oberflächliches Ge¬
lüsten, bloße Neugierde steckt, so müßte man ein Thor fein, wenn man die kost¬
bare Zeit an die Befriedigung derselben wenden wollte. Man nehme folgenden,
so gut wie alle anderen, ans der Praxis geschöpften Fall. Ein junger Kauf¬
mann wünscht irgend einen Aufsatz von Voltaire zu lesen, dessen Titel er an¬
giebt. Die Gesammtausgabe von Voltaire's Schriften hat 71 Bände. Man
führt also den Bittsteller an den Standort und fordert ihn ans, sich den ge¬
wünschten Aufsatz herauszusuchen. Wie er die lange Reihe Bände stehen
sieht, bekommt er plötzlich Beklemmungen und empfiehlt sich mit den Worten:
„Nein, nein, so ängstlich ist es nicht, ich brauche ihn nicht so nöthig." Der
Bibliothekar also soll sich hinstellen und eine Viertelstunde lang blättern, um
einen Wunsch zu befriedigen, mit dem es dem Wünschenden so wenig Ernst
ist, daß er selbst keine Minute an seiue Erfüllung zu wenden Lust hat.

Die unerfreulichste, aber leider sehr zahlreiche Sorte von Bibliotheksbe¬
nutzern sind die, welche auf Bibliotheken suchen, was sie eigentlich nicht suchen
sollten, deshalb, weil sie es anständigerweise besitzen müßten. Es ist unglaub¬
lich, was für Bücher alles ans öffentlichen Bibliotheken begehrt werden, und
von was für Leuten! Zwar ist es nicht wahr, was ein deutscher Feuilletonist
dem andern nachschreibt, daß in Frankreich und England mehr Bücher gekauft
würden, als in Deutschland, daß jeder gebildete Franzose und Engländer eine
gewählte Bibliothek als eine Zierde seines Hauses betrachte. Die Literarsta-
tistik hat längst nachgewiesen, daß Deutschland, mit Abrechnung Oesterreichs
und der Schweiz, jährlich etwa 50 Prozent Bücher mehr produzirt als Frank¬
reich und England, daß diese Ueberlegenheit vor allem in der strengwissen-
schaftlichen und in der populärwissenschaftlichen, keineswegs aber in der eigent¬
lichen Bibliotheksliteratur besteht, daß im Gegentheil in der letzteren die Eng-


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[0269] harten Provinzialstadt, der sich auf seine alten Toge vor lieber Langerweile noch auf das Schriftstellern legen will, sucht brieflich uach, „ihm gefälligst alle diejenigen im Besitz der Bibliothek befindlichen Bücher bezeichnen zu wollen, in denen er etwas über die Geschichte seines Geschlechtes finden kann," Aehn- liche Ziunnthungen sind es, wenn der Bibliothekar aus einem Sammelwerke oder einer Zeitschrift von fünfzig Jahrgängen, aus der sechzigbändigen Gesammt- ausgabe eines Schriftstellers dem Entleiher eine einzelne Schrift Heranssuchen soll, bloß weil dieser zu bequem gewesen ist, beim Abschreiben des Zitates sich die Zahl des Bandes zu notiren. Um alle diese Käuze befriedigen zu können, müßten unsere öffentlichen Bibliotheken das zehnfache Personal haben. In der Regel finden denn auch derartige Wünsche nur sehr partielle Erfüllung oder werden wohl auch, wie der Brief des Herrn Majors, einfach ad aow gelegt. Bedenkt man, wie oft obendrein hinter solchen naiven Zumuthungen keineswegs ernstes wissenschaftliches Interesse, sondern nur oberflächliches Ge¬ lüsten, bloße Neugierde steckt, so müßte man ein Thor fein, wenn man die kost¬ bare Zeit an die Befriedigung derselben wenden wollte. Man nehme folgenden, so gut wie alle anderen, ans der Praxis geschöpften Fall. Ein junger Kauf¬ mann wünscht irgend einen Aufsatz von Voltaire zu lesen, dessen Titel er an¬ giebt. Die Gesammtausgabe von Voltaire's Schriften hat 71 Bände. Man führt also den Bittsteller an den Standort und fordert ihn ans, sich den ge¬ wünschten Aufsatz herauszusuchen. Wie er die lange Reihe Bände stehen sieht, bekommt er plötzlich Beklemmungen und empfiehlt sich mit den Worten: „Nein, nein, so ängstlich ist es nicht, ich brauche ihn nicht so nöthig." Der Bibliothekar also soll sich hinstellen und eine Viertelstunde lang blättern, um einen Wunsch zu befriedigen, mit dem es dem Wünschenden so wenig Ernst ist, daß er selbst keine Minute an seiue Erfüllung zu wenden Lust hat. Die unerfreulichste, aber leider sehr zahlreiche Sorte von Bibliotheksbe¬ nutzern sind die, welche auf Bibliotheken suchen, was sie eigentlich nicht suchen sollten, deshalb, weil sie es anständigerweise besitzen müßten. Es ist unglaub¬ lich, was für Bücher alles ans öffentlichen Bibliotheken begehrt werden, und von was für Leuten! Zwar ist es nicht wahr, was ein deutscher Feuilletonist dem andern nachschreibt, daß in Frankreich und England mehr Bücher gekauft würden, als in Deutschland, daß jeder gebildete Franzose und Engländer eine gewählte Bibliothek als eine Zierde seines Hauses betrachte. Die Literarsta- tistik hat längst nachgewiesen, daß Deutschland, mit Abrechnung Oesterreichs und der Schweiz, jährlich etwa 50 Prozent Bücher mehr produzirt als Frank¬ reich und England, daß diese Ueberlegenheit vor allem in der strengwissen- schaftlichen und in der populärwissenschaftlichen, keineswegs aber in der eigent¬ lichen Bibliotheksliteratur besteht, daß im Gegentheil in der letzteren die Eng-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/269>, abgerufen am 27.09.2024.