Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sie kein Bedenken tragen, jene Vielheit der Kräfte als Götter zu bezeichnen
und die Mythen allegorisch umzudeuten. Die schärfste Kritik von diesem philo¬
sophischen Standpunkt aus hat Seneca geübt. Er hat mit einer Unum-
wundenheit Kultus und Mythologie angegriffen, die uns einen Beweis liefert,
wie wenig dieselben noch Wurzeln im Bewußtsein der Gebildeten hatten.
Epictet und Mark Aurel dagegen kehrten zu dem früher beobachteten
Verfahren zurück und suchten ein positiveres Verhältniß zur Volksreligion zu
gewinnen, letzterer offenbar aus tief religiösem Bedürfniß. Die philosophische
Stellung, welche Cicero einnahm, war wesentlich eine eklektische; daß er am
bestehenden Gottesdienst und den Göttersagen Anstoß nahm, unterliegt keinem
Zweifel, aber seiner Kritik fehlte die Energie, da der Hinblick auf das Staats¬
interesse ihm das als geboten erscheinen ließ, was er doch mißbilligte. Und
diese Rücksicht auf die politische Nothwendigkeit war es denn anch, welche der
römischen Religion den Schein des Lebeus verlieh, als sie das Wesen desselben
schon längst verloren hatte.

Je mehr aber der alte Glaube seine Kraft eingebüßt hatte, desto eifriger
suchte das religiöse Bedürfniß, das von der Philosophie nicht befriedigt wurde,
in Aberglaube und Schwärmerei Genüge. Ein anschauliches Bild solcher Ver-
irrungen giebt der folgende Aufsatz: "Alexander und Peregrinus, ein Betrüger
und ein Schwärmer."

Was sich schon das zweite nachchristliche Jahrhundert bieten ließ, dafür
legt die Wirksamkeit jenes Alexander Beweis ab, der von Abonuteichos in
Paphlagonien aus bis nach Rom seine Thätigkeit ausdehnte. Als Nachkomme
des Perseus und des Asklepios, als Prophet des letzteren, der in einer von
ihm gezähmten Schlange verehrt wurde, als Gatte der Selene trieb er ein
glänzendes Geschäft mit Orakeln und Weissagungen. Gelang es ihm doch,
den vornehmen Römer Rutilianus zum Schwiegersohn zu gewinnen, indem er
ihm auf die Frage, ob er sich nach dem Tode seiner Fran wieder verheirathen
solle, die Antwort gab: "Freie die Tochter du nnr Alexanders und der Selene";
hörte doch ein Mark Aurel auf seiue Orakelsprüche, wurden doch Münzen ge¬
prägt, auf deren einer Seite jene Schlange abgebildet war oder ihr göttlicher
Name "Glykon" eingegraben, vermochte er es doch, die Stadt Abonuteichos
in die Stadt Tonopolis zu verwandeln! Und dieses Ansehen wurde auch
nicht durch die Unsittlichkeit seines Wandels gemindert. Auch die Thatsache,
daß er siebenzig Jahre alt starb, obwohl er sich eine Lebensdauer von hundert¬
undfunfzig Jahren geweissagt hatte, kann es nicht schmälern. Dem Gestorbenen
wurde eine Bildsäule errichtet, welche göttliche Ehren empfing; man opferte
ihr und feierte Feste. Orakel knüpften sich an sie, wunderbare Heilungen
in Folge der Anrufung Alexanders wurden berichtet. Neben der Bildsäule


Grenzboten I. 137". 28

sie kein Bedenken tragen, jene Vielheit der Kräfte als Götter zu bezeichnen
und die Mythen allegorisch umzudeuten. Die schärfste Kritik von diesem philo¬
sophischen Standpunkt aus hat Seneca geübt. Er hat mit einer Unum-
wundenheit Kultus und Mythologie angegriffen, die uns einen Beweis liefert,
wie wenig dieselben noch Wurzeln im Bewußtsein der Gebildeten hatten.
Epictet und Mark Aurel dagegen kehrten zu dem früher beobachteten
Verfahren zurück und suchten ein positiveres Verhältniß zur Volksreligion zu
gewinnen, letzterer offenbar aus tief religiösem Bedürfniß. Die philosophische
Stellung, welche Cicero einnahm, war wesentlich eine eklektische; daß er am
bestehenden Gottesdienst und den Göttersagen Anstoß nahm, unterliegt keinem
Zweifel, aber seiner Kritik fehlte die Energie, da der Hinblick auf das Staats¬
interesse ihm das als geboten erscheinen ließ, was er doch mißbilligte. Und
diese Rücksicht auf die politische Nothwendigkeit war es denn anch, welche der
römischen Religion den Schein des Lebeus verlieh, als sie das Wesen desselben
schon längst verloren hatte.

Je mehr aber der alte Glaube seine Kraft eingebüßt hatte, desto eifriger
suchte das religiöse Bedürfniß, das von der Philosophie nicht befriedigt wurde,
in Aberglaube und Schwärmerei Genüge. Ein anschauliches Bild solcher Ver-
irrungen giebt der folgende Aufsatz: „Alexander und Peregrinus, ein Betrüger
und ein Schwärmer."

Was sich schon das zweite nachchristliche Jahrhundert bieten ließ, dafür
legt die Wirksamkeit jenes Alexander Beweis ab, der von Abonuteichos in
Paphlagonien aus bis nach Rom seine Thätigkeit ausdehnte. Als Nachkomme
des Perseus und des Asklepios, als Prophet des letzteren, der in einer von
ihm gezähmten Schlange verehrt wurde, als Gatte der Selene trieb er ein
glänzendes Geschäft mit Orakeln und Weissagungen. Gelang es ihm doch,
den vornehmen Römer Rutilianus zum Schwiegersohn zu gewinnen, indem er
ihm auf die Frage, ob er sich nach dem Tode seiner Fran wieder verheirathen
solle, die Antwort gab: „Freie die Tochter du nnr Alexanders und der Selene";
hörte doch ein Mark Aurel auf seiue Orakelsprüche, wurden doch Münzen ge¬
prägt, auf deren einer Seite jene Schlange abgebildet war oder ihr göttlicher
Name „Glykon" eingegraben, vermochte er es doch, die Stadt Abonuteichos
in die Stadt Tonopolis zu verwandeln! Und dieses Ansehen wurde auch
nicht durch die Unsittlichkeit seines Wandels gemindert. Auch die Thatsache,
daß er siebenzig Jahre alt starb, obwohl er sich eine Lebensdauer von hundert¬
undfunfzig Jahren geweissagt hatte, kann es nicht schmälern. Dem Gestorbenen
wurde eine Bildsäule errichtet, welche göttliche Ehren empfing; man opferte
ihr und feierte Feste. Orakel knüpften sich an sie, wunderbare Heilungen
in Folge der Anrufung Alexanders wurden berichtet. Neben der Bildsäule


Grenzboten I. 137». 28
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139518"/>
          <p xml:id="ID_636" prev="#ID_635"> sie kein Bedenken tragen, jene Vielheit der Kräfte als Götter zu bezeichnen<lb/>
und die Mythen allegorisch umzudeuten. Die schärfste Kritik von diesem philo¬<lb/>
sophischen Standpunkt aus hat Seneca geübt. Er hat mit einer Unum-<lb/>
wundenheit Kultus und Mythologie angegriffen, die uns einen Beweis liefert,<lb/>
wie wenig dieselben noch Wurzeln im Bewußtsein der Gebildeten hatten.<lb/>
Epictet und Mark Aurel dagegen kehrten zu dem früher beobachteten<lb/>
Verfahren zurück und suchten ein positiveres Verhältniß zur Volksreligion zu<lb/>
gewinnen, letzterer offenbar aus tief religiösem Bedürfniß. Die philosophische<lb/>
Stellung, welche Cicero einnahm, war wesentlich eine eklektische; daß er am<lb/>
bestehenden Gottesdienst und den Göttersagen Anstoß nahm, unterliegt keinem<lb/>
Zweifel, aber seiner Kritik fehlte die Energie, da der Hinblick auf das Staats¬<lb/>
interesse ihm das als geboten erscheinen ließ, was er doch mißbilligte. Und<lb/>
diese Rücksicht auf die politische Nothwendigkeit war es denn anch, welche der<lb/>
römischen Religion den Schein des Lebeus verlieh, als sie das Wesen desselben<lb/>
schon längst verloren hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_637"> Je mehr aber der alte Glaube seine Kraft eingebüßt hatte, desto eifriger<lb/>
suchte das religiöse Bedürfniß, das von der Philosophie nicht befriedigt wurde,<lb/>
in Aberglaube und Schwärmerei Genüge. Ein anschauliches Bild solcher Ver-<lb/>
irrungen giebt der folgende Aufsatz: &#x201E;Alexander und Peregrinus, ein Betrüger<lb/>
und ein Schwärmer."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_638" next="#ID_639"> Was sich schon das zweite nachchristliche Jahrhundert bieten ließ, dafür<lb/>
legt die Wirksamkeit jenes Alexander Beweis ab, der von Abonuteichos in<lb/>
Paphlagonien aus bis nach Rom seine Thätigkeit ausdehnte. Als Nachkomme<lb/>
des Perseus und des Asklepios, als Prophet des letzteren, der in einer von<lb/>
ihm gezähmten Schlange verehrt wurde, als Gatte der Selene trieb er ein<lb/>
glänzendes Geschäft mit Orakeln und Weissagungen. Gelang es ihm doch,<lb/>
den vornehmen Römer Rutilianus zum Schwiegersohn zu gewinnen, indem er<lb/>
ihm auf die Frage, ob er sich nach dem Tode seiner Fran wieder verheirathen<lb/>
solle, die Antwort gab: &#x201E;Freie die Tochter du nnr Alexanders und der Selene";<lb/>
hörte doch ein Mark Aurel auf seiue Orakelsprüche, wurden doch Münzen ge¬<lb/>
prägt, auf deren einer Seite jene Schlange abgebildet war oder ihr göttlicher<lb/>
Name &#x201E;Glykon" eingegraben, vermochte er es doch, die Stadt Abonuteichos<lb/>
in die Stadt Tonopolis zu verwandeln! Und dieses Ansehen wurde auch<lb/>
nicht durch die Unsittlichkeit seines Wandels gemindert. Auch die Thatsache,<lb/>
daß er siebenzig Jahre alt starb, obwohl er sich eine Lebensdauer von hundert¬<lb/>
undfunfzig Jahren geweissagt hatte, kann es nicht schmälern. Dem Gestorbenen<lb/>
wurde eine Bildsäule errichtet, welche göttliche Ehren empfing; man opferte<lb/>
ihr und feierte Feste. Orakel knüpften sich an sie, wunderbare Heilungen<lb/>
in Folge der Anrufung Alexanders wurden berichtet. Neben der Bildsäule</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 137». 28</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] sie kein Bedenken tragen, jene Vielheit der Kräfte als Götter zu bezeichnen und die Mythen allegorisch umzudeuten. Die schärfste Kritik von diesem philo¬ sophischen Standpunkt aus hat Seneca geübt. Er hat mit einer Unum- wundenheit Kultus und Mythologie angegriffen, die uns einen Beweis liefert, wie wenig dieselben noch Wurzeln im Bewußtsein der Gebildeten hatten. Epictet und Mark Aurel dagegen kehrten zu dem früher beobachteten Verfahren zurück und suchten ein positiveres Verhältniß zur Volksreligion zu gewinnen, letzterer offenbar aus tief religiösem Bedürfniß. Die philosophische Stellung, welche Cicero einnahm, war wesentlich eine eklektische; daß er am bestehenden Gottesdienst und den Göttersagen Anstoß nahm, unterliegt keinem Zweifel, aber seiner Kritik fehlte die Energie, da der Hinblick auf das Staats¬ interesse ihm das als geboten erscheinen ließ, was er doch mißbilligte. Und diese Rücksicht auf die politische Nothwendigkeit war es denn anch, welche der römischen Religion den Schein des Lebeus verlieh, als sie das Wesen desselben schon längst verloren hatte. Je mehr aber der alte Glaube seine Kraft eingebüßt hatte, desto eifriger suchte das religiöse Bedürfniß, das von der Philosophie nicht befriedigt wurde, in Aberglaube und Schwärmerei Genüge. Ein anschauliches Bild solcher Ver- irrungen giebt der folgende Aufsatz: „Alexander und Peregrinus, ein Betrüger und ein Schwärmer." Was sich schon das zweite nachchristliche Jahrhundert bieten ließ, dafür legt die Wirksamkeit jenes Alexander Beweis ab, der von Abonuteichos in Paphlagonien aus bis nach Rom seine Thätigkeit ausdehnte. Als Nachkomme des Perseus und des Asklepios, als Prophet des letzteren, der in einer von ihm gezähmten Schlange verehrt wurde, als Gatte der Selene trieb er ein glänzendes Geschäft mit Orakeln und Weissagungen. Gelang es ihm doch, den vornehmen Römer Rutilianus zum Schwiegersohn zu gewinnen, indem er ihm auf die Frage, ob er sich nach dem Tode seiner Fran wieder verheirathen solle, die Antwort gab: „Freie die Tochter du nnr Alexanders und der Selene"; hörte doch ein Mark Aurel auf seiue Orakelsprüche, wurden doch Münzen ge¬ prägt, auf deren einer Seite jene Schlange abgebildet war oder ihr göttlicher Name „Glykon" eingegraben, vermochte er es doch, die Stadt Abonuteichos in die Stadt Tonopolis zu verwandeln! Und dieses Ansehen wurde auch nicht durch die Unsittlichkeit seines Wandels gemindert. Auch die Thatsache, daß er siebenzig Jahre alt starb, obwohl er sich eine Lebensdauer von hundert¬ undfunfzig Jahren geweissagt hatte, kann es nicht schmälern. Dem Gestorbenen wurde eine Bildsäule errichtet, welche göttliche Ehren empfing; man opferte ihr und feierte Feste. Orakel knüpften sich an sie, wunderbare Heilungen in Folge der Anrufung Alexanders wurden berichtet. Neben der Bildsäule Grenzboten I. 137». 28

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/225>, abgerufen am 20.10.2024.