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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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meine, die Gesammtheit des Seins und ihrer Gründe zu erkennen. Es erhellt
daraus, daß der Philosophie zufällt, die einzelnen Wissenschaften zu ver¬
mitteln und zu verbinden; daß sie es ist, welche die Vielheit der Wissenschaften,
deren Studium die Universitäten gewidmet sind, vor dem Auseinanderfallen
bewahrt und ihre Einheit hervorbringt.

Verlassen wir jetzt vorläufig die philosophischen Aufsätze der Sammlung,
un! uys den historischen zuzuwenden. Sie werden uns zu den beiden religivns-
philosophischen Abhandlungen, die wir uus für den Schluß aufbewahrt haben,
hinleiten; drei dieser Aufsätze sind ans der Geschichte Roms geschöpft. Den
mittelsten derselben: "Eine Arbeitseinstellung in Rom. Zur Charakteristik
römischer Volkssagen" hätten wir lieber an einer andern Stelle gelesen; er ist
in Folge seines gelehrten, historisch-kritischen Inhalts den übrigen hier ver¬
einigten Abhandlungen nicht homogen; und wir verzichten deshalb darauf, über
ihn Bericht abzustatten. Sehr werthvoll, nach unserer Meinung einer der
Glanzpunkte der Sammlung ist die Abhandlung: "Religion und Philosophie
bei den Römern." Wir übergehen, was Zeller zur Charakteristik der römischen
Religion sagt; es ist ohne Zweifel durchaus richtig, aber, wie es in der Natur
der Sache liegt, nicht neu. In dem bekannten Werke Döllingers findet
sich vollkommen dieselbe Beurtheilung. Desto lehrreicher ist die Darstellung
der Beziehungen, in welche die Philosophie zur Religion Roms trat, oder ge¬
nauer gesagt, des Auflösungsprozesses, in welchen diese durch jene gezogen
wurde. Im zweiten Jahrhundert vor Christi Geburt begann derselbe. Der
bekannte Dichter Ennius war es, der ihn damit einleitete, daß er die Schrift
des Griechen Euhemerus bearbeitete, in welcher die abgeschmackte Auffassung
der Mythen von den Göttern als mißverstandner Geschichten alter Regenten-
Häuser vorgetragen wird. Derselben Zeit gehören die untergeschobenen Bücher
des Numa an, welche die Göttersagen philosophisch umdeuteteu, und die der
Senat deshalb verbrennen ließ. In die Mitte des ersten vorchristlichen Jahr¬
hunderts sällt das Lehrgedicht des Lucretius Carus, welches die Phhsik
Epiknrs vorträgt und daher eine mechanische Naturerklärung zur Geltung zu
bringen sucht. Die Religion erscheint hier als Aberglaube und tastender Wahn.
Wie der Deismus Epiknrs, so drang anch der Pantheismus der Stoa in die
römische Welt; und der berühmte Rechtsgelehrte Quintus Mucius Scävola
(er starb 82 v. Chr. im marianischen Bürgerkrieg) unternahm es, die Volks¬
religion einer Kritik auf stoischer Grundlage zu unterwerfen. Dasselbe that
der berühmte Alterthumsforscher Markus Terentius Varro (geht. 25
v. Chr.). Als Stoiker erkennen diese Mäuner nur eine in einer Vielheit ein¬
zelner Erscheinungen wirksame Weltkraft an, suchen sich aber mit dem Volks¬
glauben, wie da" die Praxis der Stoiker war, dadurch auseinanderzusetzen, daß


meine, die Gesammtheit des Seins und ihrer Gründe zu erkennen. Es erhellt
daraus, daß der Philosophie zufällt, die einzelnen Wissenschaften zu ver¬
mitteln und zu verbinden; daß sie es ist, welche die Vielheit der Wissenschaften,
deren Studium die Universitäten gewidmet sind, vor dem Auseinanderfallen
bewahrt und ihre Einheit hervorbringt.

Verlassen wir jetzt vorläufig die philosophischen Aufsätze der Sammlung,
un! uys den historischen zuzuwenden. Sie werden uns zu den beiden religivns-
philosophischen Abhandlungen, die wir uus für den Schluß aufbewahrt haben,
hinleiten; drei dieser Aufsätze sind ans der Geschichte Roms geschöpft. Den
mittelsten derselben: „Eine Arbeitseinstellung in Rom. Zur Charakteristik
römischer Volkssagen" hätten wir lieber an einer andern Stelle gelesen; er ist
in Folge seines gelehrten, historisch-kritischen Inhalts den übrigen hier ver¬
einigten Abhandlungen nicht homogen; und wir verzichten deshalb darauf, über
ihn Bericht abzustatten. Sehr werthvoll, nach unserer Meinung einer der
Glanzpunkte der Sammlung ist die Abhandlung: „Religion und Philosophie
bei den Römern." Wir übergehen, was Zeller zur Charakteristik der römischen
Religion sagt; es ist ohne Zweifel durchaus richtig, aber, wie es in der Natur
der Sache liegt, nicht neu. In dem bekannten Werke Döllingers findet
sich vollkommen dieselbe Beurtheilung. Desto lehrreicher ist die Darstellung
der Beziehungen, in welche die Philosophie zur Religion Roms trat, oder ge¬
nauer gesagt, des Auflösungsprozesses, in welchen diese durch jene gezogen
wurde. Im zweiten Jahrhundert vor Christi Geburt begann derselbe. Der
bekannte Dichter Ennius war es, der ihn damit einleitete, daß er die Schrift
des Griechen Euhemerus bearbeitete, in welcher die abgeschmackte Auffassung
der Mythen von den Göttern als mißverstandner Geschichten alter Regenten-
Häuser vorgetragen wird. Derselben Zeit gehören die untergeschobenen Bücher
des Numa an, welche die Göttersagen philosophisch umdeuteteu, und die der
Senat deshalb verbrennen ließ. In die Mitte des ersten vorchristlichen Jahr¬
hunderts sällt das Lehrgedicht des Lucretius Carus, welches die Phhsik
Epiknrs vorträgt und daher eine mechanische Naturerklärung zur Geltung zu
bringen sucht. Die Religion erscheint hier als Aberglaube und tastender Wahn.
Wie der Deismus Epiknrs, so drang anch der Pantheismus der Stoa in die
römische Welt; und der berühmte Rechtsgelehrte Quintus Mucius Scävola
(er starb 82 v. Chr. im marianischen Bürgerkrieg) unternahm es, die Volks¬
religion einer Kritik auf stoischer Grundlage zu unterwerfen. Dasselbe that
der berühmte Alterthumsforscher Markus Terentius Varro (geht. 25
v. Chr.). Als Stoiker erkennen diese Mäuner nur eine in einer Vielheit ein¬
zelner Erscheinungen wirksame Weltkraft an, suchen sich aber mit dem Volks¬
glauben, wie da» die Praxis der Stoiker war, dadurch auseinanderzusetzen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/224>, abgerufen am 20.10.2024.