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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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die amerikanische Kultur eine selbständige? Hat sie nicht alle ihre Wurzeln in
England, in Europa? Alle die Hunderttausende, welche jenseits des Oceans
eine neue Heimath gewannen, haben den neuen Boden betreten als Kinder
alter Kulturvölker, nicht als rohe Wilde. Die amerikanische Civilisation ist
ein Ableger der europäischen, eigenartig entwickelt allerdings, aber nicht denkbar
ohne den europäischen Stamm. Und was wir im "alten" Europa -- wir
sind stolz darauf es so zu nennen -- von Amerika empfangen, das ist zu ver¬
gleichen mit den Früchten eines Baumes, der, aus der Heimat in fremden
Boden verpflanzt, manche Eigenthümlichkeiten angenommen hat, aber deshalb
doch nicht aufhört, ein einheimischer zu sein.

Bleibt aber der Satz bestehen: nur alte Kulturvölker entwickeln eine hohe
technische Kultur, dann wird auch der Techniker, nicht blos, weil das eben
zur allgemeinen Bildung gehört, sondern weil es ihm zum Verständnisse seiner
eigenen Wissenschaft und zur Erkenntniß ihres innigen Zusammenhanges mit
dem Ganzen menschlicher Entwicklung verhilft, er wird es nicht verschmähen
dürfen, sich mit dem Gange derselben bekannt zu machen.

Er wird dadurch vielleicht auch vor einer Gefahr behütet werden, die ihm
besonders nahe zu liegen scheint, vor der Gefahr, die Gegenwart zu über¬
schätzen.

Die Lobredner der Vergangenheit sind allerdings, außer in gewissen
Kreisen, beinahe verstummt; an die Stelle wehmüthigen Rückblicks auf ent¬
schwundene Zeiten ist ein freudiger Stolz auf die Gegenwart, ein frisches
Hinausstreben in die Zukunft getreten. Das ist das Zeichen eines gesunden
Zustandes. Die Zeit, die nur rückwärts schaut, nur in der Vergangenheit ihre
Ideale sucht, ist krank und wird, weil sie an ihrer eigenen Kraft ver¬
zweifelt, wenig schaffen. In welcher Thätigkeit aber könnte der Mensch der
Gegenwart mit gerechteren Stolze auf seine Zeit, und zuversichtlicher in die
Zukunft schauen, als in der Technik! Denn in der That, was hat eine frühere
Periode der unseren auf diesem Gebiete an die Seite zu setzen! Aber hüten
wir uns, daß so berechtigtes Selbstgefühl uns verleite zur Ueberschätzung unserer
Zeit, zur Unterschätzung der Vergangenheit!

Ich denke dabei nicht sowohl an die Gefahr, frühere technische Leistungen
als unbedeutend geringschätzig zu behandeln; dies wäre das Geringste. Ich
meine vielmehr: die Gegenwart hat überhaupt die Neigung, rein technische
Hervorbringungen zu überschätzen gegenüber künstlerischen, und was eng damit
zusammenhängt, die blos materielle Civilisation zu hoch zu stellen.

Sie hat ja technische Wunder vollbracht: ihre Eisenbahnen mit ihren
riesigen Tunneln und Eisenbrücken übertreffen weit die römischen Heerstraßen
und Aquädukte, das Größte, was die Vorzeit in dieser Beziehung auszuweisen


die amerikanische Kultur eine selbständige? Hat sie nicht alle ihre Wurzeln in
England, in Europa? Alle die Hunderttausende, welche jenseits des Oceans
eine neue Heimath gewannen, haben den neuen Boden betreten als Kinder
alter Kulturvölker, nicht als rohe Wilde. Die amerikanische Civilisation ist
ein Ableger der europäischen, eigenartig entwickelt allerdings, aber nicht denkbar
ohne den europäischen Stamm. Und was wir im „alten" Europa — wir
sind stolz darauf es so zu nennen — von Amerika empfangen, das ist zu ver¬
gleichen mit den Früchten eines Baumes, der, aus der Heimat in fremden
Boden verpflanzt, manche Eigenthümlichkeiten angenommen hat, aber deshalb
doch nicht aufhört, ein einheimischer zu sein.

Bleibt aber der Satz bestehen: nur alte Kulturvölker entwickeln eine hohe
technische Kultur, dann wird auch der Techniker, nicht blos, weil das eben
zur allgemeinen Bildung gehört, sondern weil es ihm zum Verständnisse seiner
eigenen Wissenschaft und zur Erkenntniß ihres innigen Zusammenhanges mit
dem Ganzen menschlicher Entwicklung verhilft, er wird es nicht verschmähen
dürfen, sich mit dem Gange derselben bekannt zu machen.

Er wird dadurch vielleicht auch vor einer Gefahr behütet werden, die ihm
besonders nahe zu liegen scheint, vor der Gefahr, die Gegenwart zu über¬
schätzen.

Die Lobredner der Vergangenheit sind allerdings, außer in gewissen
Kreisen, beinahe verstummt; an die Stelle wehmüthigen Rückblicks auf ent¬
schwundene Zeiten ist ein freudiger Stolz auf die Gegenwart, ein frisches
Hinausstreben in die Zukunft getreten. Das ist das Zeichen eines gesunden
Zustandes. Die Zeit, die nur rückwärts schaut, nur in der Vergangenheit ihre
Ideale sucht, ist krank und wird, weil sie an ihrer eigenen Kraft ver¬
zweifelt, wenig schaffen. In welcher Thätigkeit aber könnte der Mensch der
Gegenwart mit gerechteren Stolze auf seine Zeit, und zuversichtlicher in die
Zukunft schauen, als in der Technik! Denn in der That, was hat eine frühere
Periode der unseren auf diesem Gebiete an die Seite zu setzen! Aber hüten
wir uns, daß so berechtigtes Selbstgefühl uns verleite zur Ueberschätzung unserer
Zeit, zur Unterschätzung der Vergangenheit!

Ich denke dabei nicht sowohl an die Gefahr, frühere technische Leistungen
als unbedeutend geringschätzig zu behandeln; dies wäre das Geringste. Ich
meine vielmehr: die Gegenwart hat überhaupt die Neigung, rein technische
Hervorbringungen zu überschätzen gegenüber künstlerischen, und was eng damit
zusammenhängt, die blos materielle Civilisation zu hoch zu stellen.

Sie hat ja technische Wunder vollbracht: ihre Eisenbahnen mit ihren
riesigen Tunneln und Eisenbrücken übertreffen weit die römischen Heerstraßen
und Aquädukte, das Größte, was die Vorzeit in dieser Beziehung auszuweisen


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[0096] die amerikanische Kultur eine selbständige? Hat sie nicht alle ihre Wurzeln in England, in Europa? Alle die Hunderttausende, welche jenseits des Oceans eine neue Heimath gewannen, haben den neuen Boden betreten als Kinder alter Kulturvölker, nicht als rohe Wilde. Die amerikanische Civilisation ist ein Ableger der europäischen, eigenartig entwickelt allerdings, aber nicht denkbar ohne den europäischen Stamm. Und was wir im „alten" Europa — wir sind stolz darauf es so zu nennen — von Amerika empfangen, das ist zu ver¬ gleichen mit den Früchten eines Baumes, der, aus der Heimat in fremden Boden verpflanzt, manche Eigenthümlichkeiten angenommen hat, aber deshalb doch nicht aufhört, ein einheimischer zu sein. Bleibt aber der Satz bestehen: nur alte Kulturvölker entwickeln eine hohe technische Kultur, dann wird auch der Techniker, nicht blos, weil das eben zur allgemeinen Bildung gehört, sondern weil es ihm zum Verständnisse seiner eigenen Wissenschaft und zur Erkenntniß ihres innigen Zusammenhanges mit dem Ganzen menschlicher Entwicklung verhilft, er wird es nicht verschmähen dürfen, sich mit dem Gange derselben bekannt zu machen. Er wird dadurch vielleicht auch vor einer Gefahr behütet werden, die ihm besonders nahe zu liegen scheint, vor der Gefahr, die Gegenwart zu über¬ schätzen. Die Lobredner der Vergangenheit sind allerdings, außer in gewissen Kreisen, beinahe verstummt; an die Stelle wehmüthigen Rückblicks auf ent¬ schwundene Zeiten ist ein freudiger Stolz auf die Gegenwart, ein frisches Hinausstreben in die Zukunft getreten. Das ist das Zeichen eines gesunden Zustandes. Die Zeit, die nur rückwärts schaut, nur in der Vergangenheit ihre Ideale sucht, ist krank und wird, weil sie an ihrer eigenen Kraft ver¬ zweifelt, wenig schaffen. In welcher Thätigkeit aber könnte der Mensch der Gegenwart mit gerechteren Stolze auf seine Zeit, und zuversichtlicher in die Zukunft schauen, als in der Technik! Denn in der That, was hat eine frühere Periode der unseren auf diesem Gebiete an die Seite zu setzen! Aber hüten wir uns, daß so berechtigtes Selbstgefühl uns verleite zur Ueberschätzung unserer Zeit, zur Unterschätzung der Vergangenheit! Ich denke dabei nicht sowohl an die Gefahr, frühere technische Leistungen als unbedeutend geringschätzig zu behandeln; dies wäre das Geringste. Ich meine vielmehr: die Gegenwart hat überhaupt die Neigung, rein technische Hervorbringungen zu überschätzen gegenüber künstlerischen, und was eng damit zusammenhängt, die blos materielle Civilisation zu hoch zu stellen. Sie hat ja technische Wunder vollbracht: ihre Eisenbahnen mit ihren riesigen Tunneln und Eisenbrücken übertreffen weit die römischen Heerstraßen und Aquädukte, das Größte, was die Vorzeit in dieser Beziehung auszuweisen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/96>, abgerufen am 28.09.2024.