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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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wird zur Wahrheit. Aber diese hervorragende weltbeherrschende Stellung eines
weder sehr umfänglichen, noch reicher als viele andere ausgestatteten Landes
konnte nicht erworben und nicht behauptet werden ohne die Anspannung aller
Hilfsmittel der Industrie und des Handels und einer höchst intensiven Land¬
wirthschaft. Und diese war wiederum nur möglich dnrch jene riesige Entwickelung
der Technik, welche England zum classischen Boden der modernen Bolkswirth-
schaft gemacht hat, nur möglich, als mächtige Dampfmaschinen das Grundwasser
seiner Kohlenschächte bewältigten und das Räderwerk seiner Fabriken trieben,
als sein Boden übersponnen wurde mit dem dichten Netze seiner Schienenwege,
als Hunderte von Dampfern aus allen Häfen nach allen Welttheilen flogen.

So bewährt sich auch hier der Satz: nur das Volk, das eine reiche Ge¬
schichte durchlebt hat, ist fähig zu hoher technischer Kultur, weil erst eine lauge
und mannigfaltige Entwickelung die Bedingungen zu ihrer Entstehung schafft.

Doch ich glaube einen Einwand zuhören: Nordamerika steht keinem Laude
der Erde nach im Reichthum an technischen Hilfsmitteln, an Menge und Be¬
deutung der neuen Erfindungen allen voran. Und doch ist es ein junges Land,
das feine Geschichte kaum nach ein paar Jahrhunderten bemißt, noch wogt es
dort chaotisch durcheinander von allerlei Volk, noch gibt es kaum eiuen durch¬
gebildeten Nationalcharakter; denn was man "amerikanischen Charakter" nennt,
das ist in Wahrheit die Eigenthümlichkeit nur des herrschenden Theiles. Noch
hat der junge Staat sich wichtige, ja entscheidende Fragen gar nicht gestellt
und stellen können, nicht die Frage, wie die demokratisch-republikanische Ver¬
fassung sich vertrage mit einer starken Centralregierung und einem großen
stehenden Heere; denn die Union hat keine Nachbarn im politischen Sinne,
welche diese Fragen ihr aufdringen könnten, und uicht die Frage, wie die ab¬
solute Freiheit der Kirche sich vertrage mit der bürgerlichen Freiheit, wenn
dereinst die römische Herrschsucht einige Millionen statt einiger Hunderttausend
stimmberechtigter Bürger als gehorsame Herde an die Urnen treibt. Selbst
die gewaltigen Gegensätze, welche die Union in sich birgt, sind die eines un¬
fertigen, werdenden Volkes, eines jungen Landes: die Gegensätze zwischen nor¬
discher und subtropischer Bodenkultur, zwischen der demokratischen Gesellschaft
des Nordens und der Aristokratie des Südens, zwischen den schon europäisch
gearteten Industriestaaten des Ostens, den Ackerbau- und Weidelanden der
Mitte und des Westens, zwischen der puritanischen Sittenstrenge von Boston
und der kaum übertrosfuen Korruption von Neu-Avrk. Dergleichen Gegen¬
sätze zersprengen entweder den Volkskörper, in dem sie ihren Sitz haben, oder
der eine überwältigt den andern; ein Drittes ist nicht möglich. Wer also
wollte die Unfertigst des amerikanischen Lebens bestreiten und wer auf der
andern Seite seine riesige technische Entwickelung leugnen? Aber -- ist denn


wird zur Wahrheit. Aber diese hervorragende weltbeherrschende Stellung eines
weder sehr umfänglichen, noch reicher als viele andere ausgestatteten Landes
konnte nicht erworben und nicht behauptet werden ohne die Anspannung aller
Hilfsmittel der Industrie und des Handels und einer höchst intensiven Land¬
wirthschaft. Und diese war wiederum nur möglich dnrch jene riesige Entwickelung
der Technik, welche England zum classischen Boden der modernen Bolkswirth-
schaft gemacht hat, nur möglich, als mächtige Dampfmaschinen das Grundwasser
seiner Kohlenschächte bewältigten und das Räderwerk seiner Fabriken trieben,
als sein Boden übersponnen wurde mit dem dichten Netze seiner Schienenwege,
als Hunderte von Dampfern aus allen Häfen nach allen Welttheilen flogen.

So bewährt sich auch hier der Satz: nur das Volk, das eine reiche Ge¬
schichte durchlebt hat, ist fähig zu hoher technischer Kultur, weil erst eine lauge
und mannigfaltige Entwickelung die Bedingungen zu ihrer Entstehung schafft.

Doch ich glaube einen Einwand zuhören: Nordamerika steht keinem Laude
der Erde nach im Reichthum an technischen Hilfsmitteln, an Menge und Be¬
deutung der neuen Erfindungen allen voran. Und doch ist es ein junges Land,
das feine Geschichte kaum nach ein paar Jahrhunderten bemißt, noch wogt es
dort chaotisch durcheinander von allerlei Volk, noch gibt es kaum eiuen durch¬
gebildeten Nationalcharakter; denn was man „amerikanischen Charakter" nennt,
das ist in Wahrheit die Eigenthümlichkeit nur des herrschenden Theiles. Noch
hat der junge Staat sich wichtige, ja entscheidende Fragen gar nicht gestellt
und stellen können, nicht die Frage, wie die demokratisch-republikanische Ver¬
fassung sich vertrage mit einer starken Centralregierung und einem großen
stehenden Heere; denn die Union hat keine Nachbarn im politischen Sinne,
welche diese Fragen ihr aufdringen könnten, und uicht die Frage, wie die ab¬
solute Freiheit der Kirche sich vertrage mit der bürgerlichen Freiheit, wenn
dereinst die römische Herrschsucht einige Millionen statt einiger Hunderttausend
stimmberechtigter Bürger als gehorsame Herde an die Urnen treibt. Selbst
die gewaltigen Gegensätze, welche die Union in sich birgt, sind die eines un¬
fertigen, werdenden Volkes, eines jungen Landes: die Gegensätze zwischen nor¬
discher und subtropischer Bodenkultur, zwischen der demokratischen Gesellschaft
des Nordens und der Aristokratie des Südens, zwischen den schon europäisch
gearteten Industriestaaten des Ostens, den Ackerbau- und Weidelanden der
Mitte und des Westens, zwischen der puritanischen Sittenstrenge von Boston
und der kaum übertrosfuen Korruption von Neu-Avrk. Dergleichen Gegen¬
sätze zersprengen entweder den Volkskörper, in dem sie ihren Sitz haben, oder
der eine überwältigt den andern; ein Drittes ist nicht möglich. Wer also
wollte die Unfertigst des amerikanischen Lebens bestreiten und wer auf der
andern Seite seine riesige technische Entwickelung leugnen? Aber — ist denn


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[0095] wird zur Wahrheit. Aber diese hervorragende weltbeherrschende Stellung eines weder sehr umfänglichen, noch reicher als viele andere ausgestatteten Landes konnte nicht erworben und nicht behauptet werden ohne die Anspannung aller Hilfsmittel der Industrie und des Handels und einer höchst intensiven Land¬ wirthschaft. Und diese war wiederum nur möglich dnrch jene riesige Entwickelung der Technik, welche England zum classischen Boden der modernen Bolkswirth- schaft gemacht hat, nur möglich, als mächtige Dampfmaschinen das Grundwasser seiner Kohlenschächte bewältigten und das Räderwerk seiner Fabriken trieben, als sein Boden übersponnen wurde mit dem dichten Netze seiner Schienenwege, als Hunderte von Dampfern aus allen Häfen nach allen Welttheilen flogen. So bewährt sich auch hier der Satz: nur das Volk, das eine reiche Ge¬ schichte durchlebt hat, ist fähig zu hoher technischer Kultur, weil erst eine lauge und mannigfaltige Entwickelung die Bedingungen zu ihrer Entstehung schafft. Doch ich glaube einen Einwand zuhören: Nordamerika steht keinem Laude der Erde nach im Reichthum an technischen Hilfsmitteln, an Menge und Be¬ deutung der neuen Erfindungen allen voran. Und doch ist es ein junges Land, das feine Geschichte kaum nach ein paar Jahrhunderten bemißt, noch wogt es dort chaotisch durcheinander von allerlei Volk, noch gibt es kaum eiuen durch¬ gebildeten Nationalcharakter; denn was man „amerikanischen Charakter" nennt, das ist in Wahrheit die Eigenthümlichkeit nur des herrschenden Theiles. Noch hat der junge Staat sich wichtige, ja entscheidende Fragen gar nicht gestellt und stellen können, nicht die Frage, wie die demokratisch-republikanische Ver¬ fassung sich vertrage mit einer starken Centralregierung und einem großen stehenden Heere; denn die Union hat keine Nachbarn im politischen Sinne, welche diese Fragen ihr aufdringen könnten, und uicht die Frage, wie die ab¬ solute Freiheit der Kirche sich vertrage mit der bürgerlichen Freiheit, wenn dereinst die römische Herrschsucht einige Millionen statt einiger Hunderttausend stimmberechtigter Bürger als gehorsame Herde an die Urnen treibt. Selbst die gewaltigen Gegensätze, welche die Union in sich birgt, sind die eines un¬ fertigen, werdenden Volkes, eines jungen Landes: die Gegensätze zwischen nor¬ discher und subtropischer Bodenkultur, zwischen der demokratischen Gesellschaft des Nordens und der Aristokratie des Südens, zwischen den schon europäisch gearteten Industriestaaten des Ostens, den Ackerbau- und Weidelanden der Mitte und des Westens, zwischen der puritanischen Sittenstrenge von Boston und der kaum übertrosfuen Korruption von Neu-Avrk. Dergleichen Gegen¬ sätze zersprengen entweder den Volkskörper, in dem sie ihren Sitz haben, oder der eine überwältigt den andern; ein Drittes ist nicht möglich. Wer also wollte die Unfertigst des amerikanischen Lebens bestreiten und wer auf der andern Seite seine riesige technische Entwickelung leugnen? Aber — ist denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/95>, abgerufen am 21.10.2024.