Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Schulen in drei Dingen begründet: Die Geschichte vermittelt das Verständniß
für die Bedingungen, unter denen die Technik und die Wissenschaft, auf welche
sie sich gründet, sich entwickeln können. Sie bewahrt vor einer ebenso natür¬
lichen als gefährlichen Ueberschätzung der Gegenwart. Sie verhütet die Ent¬
fremdung vom staatlichen und nationalen Leben.

Ist jeder einzelne Theil menschlicher Entwickelung mit allen andern, mit
dem Ganzen aufs Engste verbunden und von den andern losgelöst nicht denk¬
bar, so gilt dies auch von der einzelnen Wissenschaft und ihrer Anwendung
in der Praxis. Wohl scheint das Leben und Arbeiten eines einzelnen Ge¬
lehrten wenig Beziehung zu haben zur Außenwelt; aber es ist doch nur denkbar
ans einer bestimmten Kulturstufe. Eine einzelne Erfindung erscheint oft los¬
gelöst von jedem Zusammenhange; blitzartig, unvermittelt tritt sie auf; aber
der Blitz fährt aus einer Wolke, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen
sich gebildet hat, und der einzelnen Erfindung sind, sieht man näher zu, hun¬
dert andere vorausgegangen; sie selbst zieht nur das Facit aus einer langen
Reihe. Nicht zu jeder Zeit also, nicht unter allen Verhältnissen kann auch die
Wissenschaft, kann die auf ihr fußende Technik sich ausbilden. Beide sind
nur möglich auf einem alten Kulturboden, in reich entwickelten Völkern.

Ist doch die älteste Zeit, die Jugend jedes Volkes, ein harter Kampf um
das Dasein im unmittelbarsten Sinne des Wortes: noch wird Alles beherrscht
von der Sorge um die materielle Existenz, um den leiblichen Unterhalt, um
die Sicherheit des Lebens und des Eigenthums; noch sind die Culturverhältnisse
aller Arten wesentlich gleichartige, noch liegt also kaum ein Bedürfniß des
Verkehres vor, noch ist deshalb der Einzelne in einen engen Kreis der An¬
schauungen gebannt. Hier sehlt zur Entfaltung der Wissenschaft nichts weniger
als Alles: die Muße fehlt, denn es fehlt die Arbeitstheilung; es mangelt die
Fähigkeit zur Kritik und Abstraction, denn nichts regt sie an, und noch ist das
geistige Leben wesentlich beschränkt ans ,die Thätigkeit des Gemüths und der
Phantasie. Hier kaun die Dichtung sich wohl bilden, nicht die Wissenschaft.
Sehen wir auf das Leben des slavischen Bauern in den Karpathen oder in
Bosnien, wir werden diese Züge überall wiederfinden. Die Technik freilich ist
in ihren Anhängen viel älter als jede Wissenschaft, denn sie ist das Kind
des unmittelbaren Bedürfnisses; lange noch ehe Thales von Milet sich die
Frage stellte: "Woraus ist die Welt entstanden?" stand das Löwenthor von
Mykenä und durchfurchte das doppeltgeruderte Meerschiff die weiß aufschäumende
Salzflut.

Aber die höhere selbständige Entwickelung der Technik ist doch gebunden
an die Voraussetzungen einer höheren Cultur: sie erst entfaltet das Bedürfniß,
sie stellt die Aufgaben, sie bietet die materiellen und geistigen Mittel, sie aus-


Schulen in drei Dingen begründet: Die Geschichte vermittelt das Verständniß
für die Bedingungen, unter denen die Technik und die Wissenschaft, auf welche
sie sich gründet, sich entwickeln können. Sie bewahrt vor einer ebenso natür¬
lichen als gefährlichen Ueberschätzung der Gegenwart. Sie verhütet die Ent¬
fremdung vom staatlichen und nationalen Leben.

Ist jeder einzelne Theil menschlicher Entwickelung mit allen andern, mit
dem Ganzen aufs Engste verbunden und von den andern losgelöst nicht denk¬
bar, so gilt dies auch von der einzelnen Wissenschaft und ihrer Anwendung
in der Praxis. Wohl scheint das Leben und Arbeiten eines einzelnen Ge¬
lehrten wenig Beziehung zu haben zur Außenwelt; aber es ist doch nur denkbar
ans einer bestimmten Kulturstufe. Eine einzelne Erfindung erscheint oft los¬
gelöst von jedem Zusammenhange; blitzartig, unvermittelt tritt sie auf; aber
der Blitz fährt aus einer Wolke, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen
sich gebildet hat, und der einzelnen Erfindung sind, sieht man näher zu, hun¬
dert andere vorausgegangen; sie selbst zieht nur das Facit aus einer langen
Reihe. Nicht zu jeder Zeit also, nicht unter allen Verhältnissen kann auch die
Wissenschaft, kann die auf ihr fußende Technik sich ausbilden. Beide sind
nur möglich auf einem alten Kulturboden, in reich entwickelten Völkern.

Ist doch die älteste Zeit, die Jugend jedes Volkes, ein harter Kampf um
das Dasein im unmittelbarsten Sinne des Wortes: noch wird Alles beherrscht
von der Sorge um die materielle Existenz, um den leiblichen Unterhalt, um
die Sicherheit des Lebens und des Eigenthums; noch sind die Culturverhältnisse
aller Arten wesentlich gleichartige, noch liegt also kaum ein Bedürfniß des
Verkehres vor, noch ist deshalb der Einzelne in einen engen Kreis der An¬
schauungen gebannt. Hier sehlt zur Entfaltung der Wissenschaft nichts weniger
als Alles: die Muße fehlt, denn es fehlt die Arbeitstheilung; es mangelt die
Fähigkeit zur Kritik und Abstraction, denn nichts regt sie an, und noch ist das
geistige Leben wesentlich beschränkt ans ,die Thätigkeit des Gemüths und der
Phantasie. Hier kaun die Dichtung sich wohl bilden, nicht die Wissenschaft.
Sehen wir auf das Leben des slavischen Bauern in den Karpathen oder in
Bosnien, wir werden diese Züge überall wiederfinden. Die Technik freilich ist
in ihren Anhängen viel älter als jede Wissenschaft, denn sie ist das Kind
des unmittelbaren Bedürfnisses; lange noch ehe Thales von Milet sich die
Frage stellte: „Woraus ist die Welt entstanden?" stand das Löwenthor von
Mykenä und durchfurchte das doppeltgeruderte Meerschiff die weiß aufschäumende
Salzflut.

Aber die höhere selbständige Entwickelung der Technik ist doch gebunden
an die Voraussetzungen einer höheren Cultur: sie erst entfaltet das Bedürfniß,
sie stellt die Aufgaben, sie bietet die materiellen und geistigen Mittel, sie aus-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/138323"/>
          <p xml:id="ID_251" prev="#ID_250"> Schulen in drei Dingen begründet: Die Geschichte vermittelt das Verständniß<lb/>
für die Bedingungen, unter denen die Technik und die Wissenschaft, auf welche<lb/>
sie sich gründet, sich entwickeln können. Sie bewahrt vor einer ebenso natür¬<lb/>
lichen als gefährlichen Ueberschätzung der Gegenwart. Sie verhütet die Ent¬<lb/>
fremdung vom staatlichen und nationalen Leben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_252"> Ist jeder einzelne Theil menschlicher Entwickelung mit allen andern, mit<lb/>
dem Ganzen aufs Engste verbunden und von den andern losgelöst nicht denk¬<lb/>
bar, so gilt dies auch von der einzelnen Wissenschaft und ihrer Anwendung<lb/>
in der Praxis. Wohl scheint das Leben und Arbeiten eines einzelnen Ge¬<lb/>
lehrten wenig Beziehung zu haben zur Außenwelt; aber es ist doch nur denkbar<lb/>
ans einer bestimmten Kulturstufe. Eine einzelne Erfindung erscheint oft los¬<lb/>
gelöst von jedem Zusammenhange; blitzartig, unvermittelt tritt sie auf; aber<lb/>
der Blitz fährt aus einer Wolke, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen<lb/>
sich gebildet hat, und der einzelnen Erfindung sind, sieht man näher zu, hun¬<lb/>
dert andere vorausgegangen; sie selbst zieht nur das Facit aus einer langen<lb/>
Reihe. Nicht zu jeder Zeit also, nicht unter allen Verhältnissen kann auch die<lb/>
Wissenschaft, kann die auf ihr fußende Technik sich ausbilden. Beide sind<lb/>
nur möglich auf einem alten Kulturboden, in reich entwickelten Völkern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_253"> Ist doch die älteste Zeit, die Jugend jedes Volkes, ein harter Kampf um<lb/>
das Dasein im unmittelbarsten Sinne des Wortes: noch wird Alles beherrscht<lb/>
von der Sorge um die materielle Existenz, um den leiblichen Unterhalt, um<lb/>
die Sicherheit des Lebens und des Eigenthums; noch sind die Culturverhältnisse<lb/>
aller Arten wesentlich gleichartige, noch liegt also kaum ein Bedürfniß des<lb/>
Verkehres vor, noch ist deshalb der Einzelne in einen engen Kreis der An¬<lb/>
schauungen gebannt. Hier sehlt zur Entfaltung der Wissenschaft nichts weniger<lb/>
als Alles: die Muße fehlt, denn es fehlt die Arbeitstheilung; es mangelt die<lb/>
Fähigkeit zur Kritik und Abstraction, denn nichts regt sie an, und noch ist das<lb/>
geistige Leben wesentlich beschränkt ans ,die Thätigkeit des Gemüths und der<lb/>
Phantasie. Hier kaun die Dichtung sich wohl bilden, nicht die Wissenschaft.<lb/>
Sehen wir auf das Leben des slavischen Bauern in den Karpathen oder in<lb/>
Bosnien, wir werden diese Züge überall wiederfinden. Die Technik freilich ist<lb/>
in ihren Anhängen viel älter als jede Wissenschaft, denn sie ist das Kind<lb/>
des unmittelbaren Bedürfnisses; lange noch ehe Thales von Milet sich die<lb/>
Frage stellte: &#x201E;Woraus ist die Welt entstanden?" stand das Löwenthor von<lb/>
Mykenä und durchfurchte das doppeltgeruderte Meerschiff die weiß aufschäumende<lb/>
Salzflut.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_254" next="#ID_255"> Aber die höhere selbständige Entwickelung der Technik ist doch gebunden<lb/>
an die Voraussetzungen einer höheren Cultur: sie erst entfaltet das Bedürfniß,<lb/>
sie stellt die Aufgaben, sie bietet die materiellen und geistigen Mittel, sie aus-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0092] Schulen in drei Dingen begründet: Die Geschichte vermittelt das Verständniß für die Bedingungen, unter denen die Technik und die Wissenschaft, auf welche sie sich gründet, sich entwickeln können. Sie bewahrt vor einer ebenso natür¬ lichen als gefährlichen Ueberschätzung der Gegenwart. Sie verhütet die Ent¬ fremdung vom staatlichen und nationalen Leben. Ist jeder einzelne Theil menschlicher Entwickelung mit allen andern, mit dem Ganzen aufs Engste verbunden und von den andern losgelöst nicht denk¬ bar, so gilt dies auch von der einzelnen Wissenschaft und ihrer Anwendung in der Praxis. Wohl scheint das Leben und Arbeiten eines einzelnen Ge¬ lehrten wenig Beziehung zu haben zur Außenwelt; aber es ist doch nur denkbar ans einer bestimmten Kulturstufe. Eine einzelne Erfindung erscheint oft los¬ gelöst von jedem Zusammenhange; blitzartig, unvermittelt tritt sie auf; aber der Blitz fährt aus einer Wolke, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen sich gebildet hat, und der einzelnen Erfindung sind, sieht man näher zu, hun¬ dert andere vorausgegangen; sie selbst zieht nur das Facit aus einer langen Reihe. Nicht zu jeder Zeit also, nicht unter allen Verhältnissen kann auch die Wissenschaft, kann die auf ihr fußende Technik sich ausbilden. Beide sind nur möglich auf einem alten Kulturboden, in reich entwickelten Völkern. Ist doch die älteste Zeit, die Jugend jedes Volkes, ein harter Kampf um das Dasein im unmittelbarsten Sinne des Wortes: noch wird Alles beherrscht von der Sorge um die materielle Existenz, um den leiblichen Unterhalt, um die Sicherheit des Lebens und des Eigenthums; noch sind die Culturverhältnisse aller Arten wesentlich gleichartige, noch liegt also kaum ein Bedürfniß des Verkehres vor, noch ist deshalb der Einzelne in einen engen Kreis der An¬ schauungen gebannt. Hier sehlt zur Entfaltung der Wissenschaft nichts weniger als Alles: die Muße fehlt, denn es fehlt die Arbeitstheilung; es mangelt die Fähigkeit zur Kritik und Abstraction, denn nichts regt sie an, und noch ist das geistige Leben wesentlich beschränkt ans ,die Thätigkeit des Gemüths und der Phantasie. Hier kaun die Dichtung sich wohl bilden, nicht die Wissenschaft. Sehen wir auf das Leben des slavischen Bauern in den Karpathen oder in Bosnien, wir werden diese Züge überall wiederfinden. Die Technik freilich ist in ihren Anhängen viel älter als jede Wissenschaft, denn sie ist das Kind des unmittelbaren Bedürfnisses; lange noch ehe Thales von Milet sich die Frage stellte: „Woraus ist die Welt entstanden?" stand das Löwenthor von Mykenä und durchfurchte das doppeltgeruderte Meerschiff die weiß aufschäumende Salzflut. Aber die höhere selbständige Entwickelung der Technik ist doch gebunden an die Voraussetzungen einer höheren Cultur: sie erst entfaltet das Bedürfniß, sie stellt die Aufgaben, sie bietet die materiellen und geistigen Mittel, sie aus-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/92
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/92>, abgerufen am 28.09.2024.