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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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wissender, wilder und roher Fanatismus den Schein der Liebe zum Heiligen
annimmt und sein System mit der göttlichen Wahrheit, die Gedanken seines
Kopfes und die Bilder seiner Phantasie mit Eingebungen des Himmels, die
Sache seines Ordens und seiner Zunft, seiner Kirche und Sekte, mit der Sache
Gottes und der Menschheit für eins und dasselbe hält und Propheten und
Heilige tödtet und Gaukler und Tyrannen kcmonisirt und anbetet." Das sehr
weitläufige, mit vielen Vermuthungen gegen den ärgerlichen Ketzer erfüllte
Gutachten der Wittenberger geht im Wesentlichen dahin:

1. Daß, obgleich Günther standhaft leugne, er doch dnrch unterschied¬
licher Zeugen Aussage überführt sei, und sein Leugnen also nur die Verstockt¬
heit seines Sinnes und seinen beharrlichen Irrthum beweise; denn wenn seine
eigene Aussage wahr sei, daß er nur die Jesuiten für Schelme und Diebe ge¬
scholten, so würden die anderen Gesellen, als Protestanten, nicht darüber ent¬
rüstet gewesen sein und ihn geschlagen bilden.

2. Der Defensor hatte für Günther angeführt, ans zweier Zeugen eidliche
Aussage und das Zeugniß vieler seiner Bekannten sich stützend, daß derselbe
immer ein christlich Leben geführt habe. Die Wittenberger erwidern: Dies
sei s. priori unmöglich, weil ein Gotteslästerer nicht ein christlich Leben
führen könne.

3. Daß er noch im Gefängniß fleißig in der Bibel und andern
frommen Büchern gelesen, sei nichts als ein schnöder Mißbrauch dieser Bücher
und Heuchelei; denn wer Gott lästere, könne nicht mit Andacht singen und lesen.

4. Die Trunkenheit könne nicht vorgeschützt werden, weil Inquisit selbst
beweise, daß er nicht von Sinnen gewesen sei, indem er wissen wolle, daß er
die gotteslästerlichen Worte nicht ausgestoßen.

5. Endlich, daß Günther von blödem Verstände sei und schon einmal
einen Anfall von Verrücktheit gehabt und deshalb ärztlich behandelt sei, sowie
auch, daß er viel an geistlichen Anfechtungen gelitten und daher Mitleid ver¬
diene, kann nicht berücksichtigt werden, theils, weil in den Akten sich davon
keine sonderlichen spüre" fänden, theils weil Inquisit durch seine Gottes¬
lästerung an dein Allen schuld sei.

Günther sei folglich als des ihm vorgeworfenen Verbrechens überwiesen an¬
zusehen, die Bestimmung der Strafe aber den niru eonsullis zu überlassen.

Um die Zeit, da dieses Gutachten in Lübeck eintraf, oder vielleicht etwas
früher, trat ein Mann ins Mittel, der wohl zu den größten Männern seines
Standes gerechnet zu werden verdient. Es war der Doctor der Theologie
Joh. Wilh. Petersen, erst Professor zu Rostau, dann Prediger in Hannover,
darauf Superintendent zu Eutin, endlich Superintendent zu Lüneburg, wo er
späterhin, besonderer Ansichten halber, angefeindet, verfolgt und zuletzt seines


wissender, wilder und roher Fanatismus den Schein der Liebe zum Heiligen
annimmt und sein System mit der göttlichen Wahrheit, die Gedanken seines
Kopfes und die Bilder seiner Phantasie mit Eingebungen des Himmels, die
Sache seines Ordens und seiner Zunft, seiner Kirche und Sekte, mit der Sache
Gottes und der Menschheit für eins und dasselbe hält und Propheten und
Heilige tödtet und Gaukler und Tyrannen kcmonisirt und anbetet." Das sehr
weitläufige, mit vielen Vermuthungen gegen den ärgerlichen Ketzer erfüllte
Gutachten der Wittenberger geht im Wesentlichen dahin:

1. Daß, obgleich Günther standhaft leugne, er doch dnrch unterschied¬
licher Zeugen Aussage überführt sei, und sein Leugnen also nur die Verstockt¬
heit seines Sinnes und seinen beharrlichen Irrthum beweise; denn wenn seine
eigene Aussage wahr sei, daß er nur die Jesuiten für Schelme und Diebe ge¬
scholten, so würden die anderen Gesellen, als Protestanten, nicht darüber ent¬
rüstet gewesen sein und ihn geschlagen bilden.

2. Der Defensor hatte für Günther angeführt, ans zweier Zeugen eidliche
Aussage und das Zeugniß vieler seiner Bekannten sich stützend, daß derselbe
immer ein christlich Leben geführt habe. Die Wittenberger erwidern: Dies
sei s. priori unmöglich, weil ein Gotteslästerer nicht ein christlich Leben
führen könne.

3. Daß er noch im Gefängniß fleißig in der Bibel und andern
frommen Büchern gelesen, sei nichts als ein schnöder Mißbrauch dieser Bücher
und Heuchelei; denn wer Gott lästere, könne nicht mit Andacht singen und lesen.

4. Die Trunkenheit könne nicht vorgeschützt werden, weil Inquisit selbst
beweise, daß er nicht von Sinnen gewesen sei, indem er wissen wolle, daß er
die gotteslästerlichen Worte nicht ausgestoßen.

5. Endlich, daß Günther von blödem Verstände sei und schon einmal
einen Anfall von Verrücktheit gehabt und deshalb ärztlich behandelt sei, sowie
auch, daß er viel an geistlichen Anfechtungen gelitten und daher Mitleid ver¬
diene, kann nicht berücksichtigt werden, theils, weil in den Akten sich davon
keine sonderlichen spüre» fänden, theils weil Inquisit durch seine Gottes¬
lästerung an dein Allen schuld sei.

Günther sei folglich als des ihm vorgeworfenen Verbrechens überwiesen an¬
zusehen, die Bestimmung der Strafe aber den niru eonsullis zu überlassen.

Um die Zeit, da dieses Gutachten in Lübeck eintraf, oder vielleicht etwas
früher, trat ein Mann ins Mittel, der wohl zu den größten Männern seines
Standes gerechnet zu werden verdient. Es war der Doctor der Theologie
Joh. Wilh. Petersen, erst Professor zu Rostau, dann Prediger in Hannover,
darauf Superintendent zu Eutin, endlich Superintendent zu Lüneburg, wo er
späterhin, besonderer Ansichten halber, angefeindet, verfolgt und zuletzt seines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/82>, abgerufen am 28.09.2024.