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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Immer einsamer wird unsere Höhe. Zuerst fern, dann immer näher tönt
das Geläut flinker Ziegen, die ans tieferer Alp uns erspäht haben und salz-
hungrig uns nacheilen, scheu und keck zugleich über eine Stunde uns nach¬
ziehen, bis die erste der reichen Alpen, die Sennhütten der Alp Gros erreicht
sind. Dunkle Schweine sielen sich in Schlammlachen, an deren Rand tiefblaue
Alpenvergißmeinnicht in Schwaden stehen. In ihren schönsten Hoffnungen ent¬
täuscht, kehren die Ziegen um. Ein bejahrter Knecht sonnt sich träge vor einer
verschlossenen Viehhütte und weist uns einsilbig höher, als wir nach Menschen
fragen. Auch weiter oben ist das Menschengeschlecht indessen nur durch den
fünfzehnjährigen Sohn des Sennen vertreten, dem meine Begleiter zunächst
im landesüblichen Dialekt eine gründliche Prüfung im Einmaleins abnehmen
und dann erst für unterrichtet genng halten, uns aus dem kühlen Felsenkeller
der Alphütte einen vollen Kübel Milch heraufzuholen, die jede sogenannte
Sahne norddeutscher Milchwirthschaften tief beschämen würde. Mit Vorsicht,
langsam, mit Salz gewürzt und mit festerer Nahrung vermischt, wird das
eiskalte köstliche Getränk genossen, alsdann aber noch eine kleine Orgie in
"Nideln" nachgefeiert. Von dem Ideal von Sahne, das unter diesem Namen
hier uns verabreicht ward, kann sich der reichste Bewohner der Ebene keine
blasse Vorstellung machen. Kirschwasser, das zur Alpenmilch immer genossen
werden sollte, um leicht eintretende schwere Verdauungsstörungen zu vermeiden,
besaßen wir nicht, da das Getränk der Fran Jndergand, welches diesen Namen
führt, nur aus Irrthum darauf getauft ist. Hochsinnig verschmähten wir da¬
gegen den nichtswürdigsten Alpenschnaps, der wohl echt zu haben gewesen
wäre, den Trank der bittern Enzianwurzel, da ein unter uns welkender Hiero-
phant des Euziauknltns uus die Offenbarung angedeihen ließ, daß der besagte
Schnaps nnr in zwei Füllen mit größtem Erfolg genossen werde: erstens wenn
Man die Absicht verfolge, seinen Magen hoffnungslos zu verderben; zweitens,
wenn der Magen so verdorben sei, daß man den begründeten Wunsch hege,
nichts mehr bei sich zu behalten. Ich bin darauf vorbereitet, den Zorn vieler
gesitteten Alpenkinds durch Mittheilung dieser Offenbarung zu erregen; aber
gewisse Erfahrungen bestätigen mir, daß der Hierophant recht hatte. Wir wan¬
delten anch ohne Kirschwasser sür diesmal ungestraft unter Milch- und Nidle-
kübeln und erreichten sonder Beschwerden auf einem von unserm Führer er¬
fundenen sogenannten Weg, an jähen Felsstürzen entlang, den Höhepunkt der
Staffelwandernng, die Alp Bernetsmatt, eine hüllenlose, unbewohnte Alpwiese,
die deu beherrschenden großartigen Umblick gewährt, der alle Mühen reich¬
lich lohnt. '

Zum ersten Mal tritt hier im Osten in seiner hohen Majestät der Todi
hervor, mit seinen weiten Eis- und Schneefeldern. Die gewaltige Ausdehnung


Immer einsamer wird unsere Höhe. Zuerst fern, dann immer näher tönt
das Geläut flinker Ziegen, die ans tieferer Alp uns erspäht haben und salz-
hungrig uns nacheilen, scheu und keck zugleich über eine Stunde uns nach¬
ziehen, bis die erste der reichen Alpen, die Sennhütten der Alp Gros erreicht
sind. Dunkle Schweine sielen sich in Schlammlachen, an deren Rand tiefblaue
Alpenvergißmeinnicht in Schwaden stehen. In ihren schönsten Hoffnungen ent¬
täuscht, kehren die Ziegen um. Ein bejahrter Knecht sonnt sich träge vor einer
verschlossenen Viehhütte und weist uns einsilbig höher, als wir nach Menschen
fragen. Auch weiter oben ist das Menschengeschlecht indessen nur durch den
fünfzehnjährigen Sohn des Sennen vertreten, dem meine Begleiter zunächst
im landesüblichen Dialekt eine gründliche Prüfung im Einmaleins abnehmen
und dann erst für unterrichtet genng halten, uns aus dem kühlen Felsenkeller
der Alphütte einen vollen Kübel Milch heraufzuholen, die jede sogenannte
Sahne norddeutscher Milchwirthschaften tief beschämen würde. Mit Vorsicht,
langsam, mit Salz gewürzt und mit festerer Nahrung vermischt, wird das
eiskalte köstliche Getränk genossen, alsdann aber noch eine kleine Orgie in
„Nideln" nachgefeiert. Von dem Ideal von Sahne, das unter diesem Namen
hier uns verabreicht ward, kann sich der reichste Bewohner der Ebene keine
blasse Vorstellung machen. Kirschwasser, das zur Alpenmilch immer genossen
werden sollte, um leicht eintretende schwere Verdauungsstörungen zu vermeiden,
besaßen wir nicht, da das Getränk der Fran Jndergand, welches diesen Namen
führt, nur aus Irrthum darauf getauft ist. Hochsinnig verschmähten wir da¬
gegen den nichtswürdigsten Alpenschnaps, der wohl echt zu haben gewesen
wäre, den Trank der bittern Enzianwurzel, da ein unter uns welkender Hiero-
phant des Euziauknltns uus die Offenbarung angedeihen ließ, daß der besagte
Schnaps nnr in zwei Füllen mit größtem Erfolg genossen werde: erstens wenn
Man die Absicht verfolge, seinen Magen hoffnungslos zu verderben; zweitens,
wenn der Magen so verdorben sei, daß man den begründeten Wunsch hege,
nichts mehr bei sich zu behalten. Ich bin darauf vorbereitet, den Zorn vieler
gesitteten Alpenkinds durch Mittheilung dieser Offenbarung zu erregen; aber
gewisse Erfahrungen bestätigen mir, daß der Hierophant recht hatte. Wir wan¬
delten anch ohne Kirschwasser sür diesmal ungestraft unter Milch- und Nidle-
kübeln und erreichten sonder Beschwerden auf einem von unserm Führer er¬
fundenen sogenannten Weg, an jähen Felsstürzen entlang, den Höhepunkt der
Staffelwandernng, die Alp Bernetsmatt, eine hüllenlose, unbewohnte Alpwiese,
die deu beherrschenden großartigen Umblick gewährt, der alle Mühen reich¬
lich lohnt. '

Zum ersten Mal tritt hier im Osten in seiner hohen Majestät der Todi
hervor, mit seinen weiten Eis- und Schneefeldern. Die gewaltige Ausdehnung


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[0519] Immer einsamer wird unsere Höhe. Zuerst fern, dann immer näher tönt das Geläut flinker Ziegen, die ans tieferer Alp uns erspäht haben und salz- hungrig uns nacheilen, scheu und keck zugleich über eine Stunde uns nach¬ ziehen, bis die erste der reichen Alpen, die Sennhütten der Alp Gros erreicht sind. Dunkle Schweine sielen sich in Schlammlachen, an deren Rand tiefblaue Alpenvergißmeinnicht in Schwaden stehen. In ihren schönsten Hoffnungen ent¬ täuscht, kehren die Ziegen um. Ein bejahrter Knecht sonnt sich träge vor einer verschlossenen Viehhütte und weist uns einsilbig höher, als wir nach Menschen fragen. Auch weiter oben ist das Menschengeschlecht indessen nur durch den fünfzehnjährigen Sohn des Sennen vertreten, dem meine Begleiter zunächst im landesüblichen Dialekt eine gründliche Prüfung im Einmaleins abnehmen und dann erst für unterrichtet genng halten, uns aus dem kühlen Felsenkeller der Alphütte einen vollen Kübel Milch heraufzuholen, die jede sogenannte Sahne norddeutscher Milchwirthschaften tief beschämen würde. Mit Vorsicht, langsam, mit Salz gewürzt und mit festerer Nahrung vermischt, wird das eiskalte köstliche Getränk genossen, alsdann aber noch eine kleine Orgie in „Nideln" nachgefeiert. Von dem Ideal von Sahne, das unter diesem Namen hier uns verabreicht ward, kann sich der reichste Bewohner der Ebene keine blasse Vorstellung machen. Kirschwasser, das zur Alpenmilch immer genossen werden sollte, um leicht eintretende schwere Verdauungsstörungen zu vermeiden, besaßen wir nicht, da das Getränk der Fran Jndergand, welches diesen Namen führt, nur aus Irrthum darauf getauft ist. Hochsinnig verschmähten wir da¬ gegen den nichtswürdigsten Alpenschnaps, der wohl echt zu haben gewesen wäre, den Trank der bittern Enzianwurzel, da ein unter uns welkender Hiero- phant des Euziauknltns uus die Offenbarung angedeihen ließ, daß der besagte Schnaps nnr in zwei Füllen mit größtem Erfolg genossen werde: erstens wenn Man die Absicht verfolge, seinen Magen hoffnungslos zu verderben; zweitens, wenn der Magen so verdorben sei, daß man den begründeten Wunsch hege, nichts mehr bei sich zu behalten. Ich bin darauf vorbereitet, den Zorn vieler gesitteten Alpenkinds durch Mittheilung dieser Offenbarung zu erregen; aber gewisse Erfahrungen bestätigen mir, daß der Hierophant recht hatte. Wir wan¬ delten anch ohne Kirschwasser sür diesmal ungestraft unter Milch- und Nidle- kübeln und erreichten sonder Beschwerden auf einem von unserm Führer er¬ fundenen sogenannten Weg, an jähen Felsstürzen entlang, den Höhepunkt der Staffelwandernng, die Alp Bernetsmatt, eine hüllenlose, unbewohnte Alpwiese, die deu beherrschenden großartigen Umblick gewährt, der alle Mühen reich¬ lich lohnt. ' Zum ersten Mal tritt hier im Osten in seiner hohen Majestät der Todi hervor, mit seinen weiten Eis- und Schneefeldern. Die gewaltige Ausdehnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/519>, abgerufen am 28.09.2024.