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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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zwei Monaten verblüht ist. Alpenvergißmeinnicht und blaue Enzianen sprießen
an wasserreichen Stellen zu unseren Füßen. In umgekehrter Reihenfolge und
Richtung überschreiten wir ans dem Kamm des Gebirges hoch über den von unten
geschauten Fällen, die fünf Gebirgswasser, die nur im Thal ans dem Herweg
durchmaßen. An einer Felstrümmerwüste von etwa viertelstündiger Breite
sind wir unten vorbeigekommen. Hier, einige tausend Fuß höher, treffen wir
in genau derselben Linie abermals ein breites Wirrsal von Felstrümmern.
Nur unterscheiden diese hier oben sich durch ihre weit größeren Dimensionen,
die ein Solideres Beharren auf der ihnen von Natur gesetzten Basis recht¬
fertigte,!, vor den etwas leichteren Vettern und Geschwistern, welche plötzlich
einmal die Thalreise antraten und nun da unten ode und zertrümmert anfragen.
Welche Naturgewalt hat die für unsere Tieflandbegriffe immerhin riesigen
Felsblöcke da hinab geführt? An einen Bergsturz, der sonst hänfig genug durch
Lawinen herbeigeführt wird, ist hier nicht zu denken. Wir haben dabei mit
älteren und mächtigeren Naturgewalten zu rechnen. Die Form des Gesteins
zu unseren Füßen, das sich in derselben Beschaffenheit hinzieht bis hinauf zu
den steilrecht aufragenden silbergrauen Wänden des großen Runden und der
beiden Wiudgällen mit ihren Schneekrvnen, verräth uns die muthmaßliche Ur¬
sache dieser Felstrümmer. Deutlich zeigen die tiefausgehöhlten Rinnen dieses
Felseubodens, die auch beim heftigsten Hochgewitter heute nicht mehr voll
Wasser fluthen, deutlich zeigen die steilen zerissenen Ränder dieser Rinnen und
die noch heute uns so nahe Grenzlinie des ewigen Schnee's, der ans Schußweite
an uns Herautritt, daß hier vor nicht unvordenklicher Zeit gewaltige Gletscher¬
massen bis zur steilen Höhenwand des Thales sich vorlngerten und, wie
jeder Gletscher; jene Felsblöcke vor sich hergeschoben haben mögen. Denn jeder
Gletscher ist ein ans flüssigem Firnschnee entstandenes, bald weicheres, bald er-
starrteres, immer bewegtes, bald zu Thal fluthendes, bald rückwärts ebbendes
Eismeer.

Vor Allem eine Aenderung aber ist hier oben vor sich gegangen: die
Sonue hat die Höhenwand des Düssistockes überschritten und ist nun für uns
da; nicht langsam und fern am Horizont aufsteigend, und allmählich, nach
Stunden erst, mit ihrem vollen Gluthstrahl uns treffend wie in tieferen Ge¬
birgslagen oder in der Ebene; sondern plötzlich rollt.sie über den Gebirgskamm
hoch über uns, und in wenigen Minuten ist alles vor uns, was bis dahin noch
im Schatten gelegen, mit blendendem Licht und mit sofort fühlbarer Wärme
übergössen. Ohne Zaudern wird der Rock ausgezogen; Tropfen um Tropfen
perlt der Schweiß von der Schläfe; der Durst regt sich und der weise Ver¬
walter unserer flüssigen Schätze bewilligt männiglich das stattliche Quantum
von drei Viertheilen eines Deeiliters säuerlichen Hallaners, der trefflich mundet.


zwei Monaten verblüht ist. Alpenvergißmeinnicht und blaue Enzianen sprießen
an wasserreichen Stellen zu unseren Füßen. In umgekehrter Reihenfolge und
Richtung überschreiten wir ans dem Kamm des Gebirges hoch über den von unten
geschauten Fällen, die fünf Gebirgswasser, die nur im Thal ans dem Herweg
durchmaßen. An einer Felstrümmerwüste von etwa viertelstündiger Breite
sind wir unten vorbeigekommen. Hier, einige tausend Fuß höher, treffen wir
in genau derselben Linie abermals ein breites Wirrsal von Felstrümmern.
Nur unterscheiden diese hier oben sich durch ihre weit größeren Dimensionen,
die ein Solideres Beharren auf der ihnen von Natur gesetzten Basis recht¬
fertigte,!, vor den etwas leichteren Vettern und Geschwistern, welche plötzlich
einmal die Thalreise antraten und nun da unten ode und zertrümmert anfragen.
Welche Naturgewalt hat die für unsere Tieflandbegriffe immerhin riesigen
Felsblöcke da hinab geführt? An einen Bergsturz, der sonst hänfig genug durch
Lawinen herbeigeführt wird, ist hier nicht zu denken. Wir haben dabei mit
älteren und mächtigeren Naturgewalten zu rechnen. Die Form des Gesteins
zu unseren Füßen, das sich in derselben Beschaffenheit hinzieht bis hinauf zu
den steilrecht aufragenden silbergrauen Wänden des großen Runden und der
beiden Wiudgällen mit ihren Schneekrvnen, verräth uns die muthmaßliche Ur¬
sache dieser Felstrümmer. Deutlich zeigen die tiefausgehöhlten Rinnen dieses
Felseubodens, die auch beim heftigsten Hochgewitter heute nicht mehr voll
Wasser fluthen, deutlich zeigen die steilen zerissenen Ränder dieser Rinnen und
die noch heute uns so nahe Grenzlinie des ewigen Schnee's, der ans Schußweite
an uns Herautritt, daß hier vor nicht unvordenklicher Zeit gewaltige Gletscher¬
massen bis zur steilen Höhenwand des Thales sich vorlngerten und, wie
jeder Gletscher; jene Felsblöcke vor sich hergeschoben haben mögen. Denn jeder
Gletscher ist ein ans flüssigem Firnschnee entstandenes, bald weicheres, bald er-
starrteres, immer bewegtes, bald zu Thal fluthendes, bald rückwärts ebbendes
Eismeer.

Vor Allem eine Aenderung aber ist hier oben vor sich gegangen: die
Sonue hat die Höhenwand des Düssistockes überschritten und ist nun für uns
da; nicht langsam und fern am Horizont aufsteigend, und allmählich, nach
Stunden erst, mit ihrem vollen Gluthstrahl uns treffend wie in tieferen Ge¬
birgslagen oder in der Ebene; sondern plötzlich rollt.sie über den Gebirgskamm
hoch über uns, und in wenigen Minuten ist alles vor uns, was bis dahin noch
im Schatten gelegen, mit blendendem Licht und mit sofort fühlbarer Wärme
übergössen. Ohne Zaudern wird der Rock ausgezogen; Tropfen um Tropfen
perlt der Schweiß von der Schläfe; der Durst regt sich und der weise Ver¬
walter unserer flüssigen Schätze bewilligt männiglich das stattliche Quantum
von drei Viertheilen eines Deeiliters säuerlichen Hallaners, der trefflich mundet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/518>, abgerufen am 21.10.2024.