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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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des Hüfigletschers, des westlichsten Ausläufers der Eiswüste des Tvdigebietes,
komuit hier erst zur vollen Geltung. Uns gerade gegenüber im Süden ragen
die schneereichen, prächtig gegliederten Firnen des Oberalpstocks, ragt die ganze
südliche Alpenwand bis zum Bristvnstock. Im Westen thut sich die starre Eis¬
welt der Engelberger Alpen durchsichtig auf. Von Spanvrtgletscher und Grahem
bis zum Wendeuhorn reiht sich Schnee und Eis aneinander. Im Norden die
Wiudgüllen, Runden und Tschiugelstvck näher und prächtiger als je. Und
wieder im Süden diesseits des tiefen Einschnittes des Madranerthals, eine
gute Stunde uuter uns in jäher Tiefe der blane Bergsee der Golzerualp, von
Tannen umstanden, scheinbar schon im Thal und doch noch fast anderthalb
Stunden über der Thcilsvhle gelegen, in welcher der Kärstelenbach dahinrauscht.
Ein aufkommender Föhn hindert uns, noch eine Stunde höher, zur Schafalp
Ruck und deu schönen Alpweiden von Oberkasern emporzusteigen, um dort
auch den Ausblick über den Titus und die Berner Alpen zu gewinnen.

Es muß hinabgestiegen sein, Amsteg zu. Aber der großartige Umblick
auf die Bergriesen bringt dem Deutschen vor allem auch die großartige Be¬
deutung dieses Tages zum Bewußtsein: es ist der siebente Jahrestag von
Mars-la-Tours. Er bringt den Todten des heißesten und glorreichsten Tages
des ganzen Krieges sein Glas dar. "Wenn Sie zu Ende sind", bemerkt der
genaue Kenner der Vortheile des Enzian -- es existirt nur ein Glas in der
Runde --, "so werde ich dann der gefallenen Franzosen gedenken." "Nein,
auch ihrer gedenke ich mit", erwiedert der Deutsche, "wir ersparen dadurch er¬
heblich an Zeit und Worten und vielleicht auch etwas an Meinungsverschie¬
denheit." Besseres als säuerlichen Gallauer hatten wir den todten Streitern
nicht zu bieten, aber wir dachten ihrer so andächtig, als ihrer je bei edleren
Tropfen gedacht worden ist.

Der Rest des Weinvorrathes wurde unten am Golzernsee vertilgt, nach
steilem Abstieg, der schwersten Partie des ganzen Weges, weit mühsamer als
der im Bädeker als besonders schroff geschilderte Pfad der Berglehne von
der Gvlzeralp abwärts nach dein Thal. Denn hier wird der Weg alljährlich
besser. Ueber dem Golzernsee stößt man auf eine Bergwiese von märchen¬
hafter Pracht und Frische der Vegetation. Unzählige Apollo's naschen den
Honig der Blüthen, ohne die Gefahr von Menschenhand zu ahnen. Einen
großen Falter ergriff ich mit der Hand an den Flügeln. Reiche Sennhütten,
schon eher zu Dorfschaften gmppirt, treten an den nun schon erkennbaren Weg
heran. Ein Alpenfräulein liebkost ein reizendes Ferkel auf ihrem Schooß.
Der Vater schaut spöttisch aus dein Fenster, als wir uns. die Feldflaschen an
dem ersten laufenden Brunnen füllen, den wir wieder treffen. "Wir lassen
dann uoch beim Kaplan von Bristen eine Messe für uns lesen!" rufe ich ihm


des Hüfigletschers, des westlichsten Ausläufers der Eiswüste des Tvdigebietes,
komuit hier erst zur vollen Geltung. Uns gerade gegenüber im Süden ragen
die schneereichen, prächtig gegliederten Firnen des Oberalpstocks, ragt die ganze
südliche Alpenwand bis zum Bristvnstock. Im Westen thut sich die starre Eis¬
welt der Engelberger Alpen durchsichtig auf. Von Spanvrtgletscher und Grahem
bis zum Wendeuhorn reiht sich Schnee und Eis aneinander. Im Norden die
Wiudgüllen, Runden und Tschiugelstvck näher und prächtiger als je. Und
wieder im Süden diesseits des tiefen Einschnittes des Madranerthals, eine
gute Stunde uuter uns in jäher Tiefe der blane Bergsee der Golzerualp, von
Tannen umstanden, scheinbar schon im Thal und doch noch fast anderthalb
Stunden über der Thcilsvhle gelegen, in welcher der Kärstelenbach dahinrauscht.
Ein aufkommender Föhn hindert uns, noch eine Stunde höher, zur Schafalp
Ruck und deu schönen Alpweiden von Oberkasern emporzusteigen, um dort
auch den Ausblick über den Titus und die Berner Alpen zu gewinnen.

Es muß hinabgestiegen sein, Amsteg zu. Aber der großartige Umblick
auf die Bergriesen bringt dem Deutschen vor allem auch die großartige Be¬
deutung dieses Tages zum Bewußtsein: es ist der siebente Jahrestag von
Mars-la-Tours. Er bringt den Todten des heißesten und glorreichsten Tages
des ganzen Krieges sein Glas dar. „Wenn Sie zu Ende sind", bemerkt der
genaue Kenner der Vortheile des Enzian — es existirt nur ein Glas in der
Runde —, „so werde ich dann der gefallenen Franzosen gedenken." „Nein,
auch ihrer gedenke ich mit", erwiedert der Deutsche, „wir ersparen dadurch er¬
heblich an Zeit und Worten und vielleicht auch etwas an Meinungsverschie¬
denheit." Besseres als säuerlichen Gallauer hatten wir den todten Streitern
nicht zu bieten, aber wir dachten ihrer so andächtig, als ihrer je bei edleren
Tropfen gedacht worden ist.

Der Rest des Weinvorrathes wurde unten am Golzernsee vertilgt, nach
steilem Abstieg, der schwersten Partie des ganzen Weges, weit mühsamer als
der im Bädeker als besonders schroff geschilderte Pfad der Berglehne von
der Gvlzeralp abwärts nach dein Thal. Denn hier wird der Weg alljährlich
besser. Ueber dem Golzernsee stößt man auf eine Bergwiese von märchen¬
hafter Pracht und Frische der Vegetation. Unzählige Apollo's naschen den
Honig der Blüthen, ohne die Gefahr von Menschenhand zu ahnen. Einen
großen Falter ergriff ich mit der Hand an den Flügeln. Reiche Sennhütten,
schon eher zu Dorfschaften gmppirt, treten an den nun schon erkennbaren Weg
heran. Ein Alpenfräulein liebkost ein reizendes Ferkel auf ihrem Schooß.
Der Vater schaut spöttisch aus dein Fenster, als wir uns. die Feldflaschen an
dem ersten laufenden Brunnen füllen, den wir wieder treffen. „Wir lassen
dann uoch beim Kaplan von Bristen eine Messe für uns lesen!" rufe ich ihm


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[0520] des Hüfigletschers, des westlichsten Ausläufers der Eiswüste des Tvdigebietes, komuit hier erst zur vollen Geltung. Uns gerade gegenüber im Süden ragen die schneereichen, prächtig gegliederten Firnen des Oberalpstocks, ragt die ganze südliche Alpenwand bis zum Bristvnstock. Im Westen thut sich die starre Eis¬ welt der Engelberger Alpen durchsichtig auf. Von Spanvrtgletscher und Grahem bis zum Wendeuhorn reiht sich Schnee und Eis aneinander. Im Norden die Wiudgüllen, Runden und Tschiugelstvck näher und prächtiger als je. Und wieder im Süden diesseits des tiefen Einschnittes des Madranerthals, eine gute Stunde uuter uns in jäher Tiefe der blane Bergsee der Golzerualp, von Tannen umstanden, scheinbar schon im Thal und doch noch fast anderthalb Stunden über der Thcilsvhle gelegen, in welcher der Kärstelenbach dahinrauscht. Ein aufkommender Föhn hindert uns, noch eine Stunde höher, zur Schafalp Ruck und deu schönen Alpweiden von Oberkasern emporzusteigen, um dort auch den Ausblick über den Titus und die Berner Alpen zu gewinnen. Es muß hinabgestiegen sein, Amsteg zu. Aber der großartige Umblick auf die Bergriesen bringt dem Deutschen vor allem auch die großartige Be¬ deutung dieses Tages zum Bewußtsein: es ist der siebente Jahrestag von Mars-la-Tours. Er bringt den Todten des heißesten und glorreichsten Tages des ganzen Krieges sein Glas dar. „Wenn Sie zu Ende sind", bemerkt der genaue Kenner der Vortheile des Enzian — es existirt nur ein Glas in der Runde —, „so werde ich dann der gefallenen Franzosen gedenken." „Nein, auch ihrer gedenke ich mit", erwiedert der Deutsche, „wir ersparen dadurch er¬ heblich an Zeit und Worten und vielleicht auch etwas an Meinungsverschie¬ denheit." Besseres als säuerlichen Gallauer hatten wir den todten Streitern nicht zu bieten, aber wir dachten ihrer so andächtig, als ihrer je bei edleren Tropfen gedacht worden ist. Der Rest des Weinvorrathes wurde unten am Golzernsee vertilgt, nach steilem Abstieg, der schwersten Partie des ganzen Weges, weit mühsamer als der im Bädeker als besonders schroff geschilderte Pfad der Berglehne von der Gvlzeralp abwärts nach dein Thal. Denn hier wird der Weg alljährlich besser. Ueber dem Golzernsee stößt man auf eine Bergwiese von märchen¬ hafter Pracht und Frische der Vegetation. Unzählige Apollo's naschen den Honig der Blüthen, ohne die Gefahr von Menschenhand zu ahnen. Einen großen Falter ergriff ich mit der Hand an den Flügeln. Reiche Sennhütten, schon eher zu Dorfschaften gmppirt, treten an den nun schon erkennbaren Weg heran. Ein Alpenfräulein liebkost ein reizendes Ferkel auf ihrem Schooß. Der Vater schaut spöttisch aus dein Fenster, als wir uns. die Feldflaschen an dem ersten laufenden Brunnen füllen, den wir wieder treffen. „Wir lassen dann uoch beim Kaplan von Bristen eine Messe für uns lesen!" rufe ich ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/520>, abgerufen am 28.09.2024.