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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Heograpljische Sagen und Mythen,
ii.

In diesem Abschnitt betrachten wir nnter der Führung Peschel's zunächst eine
Legende, die man als die Odyssee des mittelalterlichen Mönchthums bezeichnen
kann, baun das Eldorado dieser Zeit und zum Schluß den Punkt in der Mitte
der Welt, wo nach der Meinung arabischer Geographen der Teufel seinen Hof¬
halt hatte -- wie man sieht, lauter ungewöhnlich interessante Themata des
von uus in Ur. 27 angezeigten und warm empfohlenen Sammelwerkes.*)

Die canarischen Inseln waren längst schon entdeckt und von Eurvpüeru
bevölkert, Amerika war von Labrador bis zum Feuerlande bekannt, ja man
hatte bereits die Welt umsegelt, als man noch immer an die vom Mittelalter
allgemein angenommene Existenz eines Archipels (oder einer Insel) glaubte,
die 60 Grad westlich vom Meridian der portugiesischen Küste mitten im Welt¬
meer liegen und zuerst von: heiligen Brandanus besucht worden sein sollte. Die
Sage vou diesem seebefahrenden Mönche ist schon im elften Jahrhunderte
aufgezeichnet worden und nicht nur allen Völkern West- und Mitteleuropas,
sondern auch den Arabern bekannt gewesen. Ihr Inhalt aber ist im Wesent¬
lichen folgender:

In Irland lebte gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts der Abt
Braudauus. Derselbe las eines Tages in einem Buche von den drei Himmeln,
den zwei Paradiesen, den nenn Fegefeueru und den Ungeheuern des Meeres,
die Wälder auf ihrem Rücken trügen. Voll Zorn warf er das Buch ius Feuer.
Da erschien ihm ein Engel und sprach: "Brandau, warum hast Du die Wahr¬
heit verbrannt? Weißt Du nicht, daß Gott größere Dinge gethan haben
könnte als die, welche Du in dem Buche gelesen hast?" Darauf gebot er ihm,
sich zu eiuer Entdeckungsfahrt nach jenen Wundern zu rüsten, die sieben Jahre
dauern werde. Der fromme Abt erschrak, gehorchte aber und bestieg nach
einiger Zeit mit einer Anzahl von Begleitern ein Fahrzeug, mit dem er den
Kurs "gegen die Sommersonnenwende" nahm. Mitten im Meere überfiel die
Reisenden eine Windstille, und die Geführten Brandans zagten. Der gottes-
fürchtige Abt aber befahl, die Ruder einzuziehen und es dem Herrn zu über¬
lassen, was er über seine Knechte verhängen wolle. Sein Vertrauen auf
Hilfe vou droben wurde belohnt: nach einer Fahrt von vierzig Tagen erschien
im Norden ein Eiland mit steilen Felswänden, über welche frische Wasserbäche



Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde von OskarPeschel. -- Heraus¬
gegeben von I. Löwenberg- Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot, 1877.
Heograpljische Sagen und Mythen,
ii.

In diesem Abschnitt betrachten wir nnter der Führung Peschel's zunächst eine
Legende, die man als die Odyssee des mittelalterlichen Mönchthums bezeichnen
kann, baun das Eldorado dieser Zeit und zum Schluß den Punkt in der Mitte
der Welt, wo nach der Meinung arabischer Geographen der Teufel seinen Hof¬
halt hatte — wie man sieht, lauter ungewöhnlich interessante Themata des
von uus in Ur. 27 angezeigten und warm empfohlenen Sammelwerkes.*)

Die canarischen Inseln waren längst schon entdeckt und von Eurvpüeru
bevölkert, Amerika war von Labrador bis zum Feuerlande bekannt, ja man
hatte bereits die Welt umsegelt, als man noch immer an die vom Mittelalter
allgemein angenommene Existenz eines Archipels (oder einer Insel) glaubte,
die 60 Grad westlich vom Meridian der portugiesischen Küste mitten im Welt¬
meer liegen und zuerst von: heiligen Brandanus besucht worden sein sollte. Die
Sage vou diesem seebefahrenden Mönche ist schon im elften Jahrhunderte
aufgezeichnet worden und nicht nur allen Völkern West- und Mitteleuropas,
sondern auch den Arabern bekannt gewesen. Ihr Inhalt aber ist im Wesent¬
lichen folgender:

In Irland lebte gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts der Abt
Braudauus. Derselbe las eines Tages in einem Buche von den drei Himmeln,
den zwei Paradiesen, den nenn Fegefeueru und den Ungeheuern des Meeres,
die Wälder auf ihrem Rücken trügen. Voll Zorn warf er das Buch ius Feuer.
Da erschien ihm ein Engel und sprach: „Brandau, warum hast Du die Wahr¬
heit verbrannt? Weißt Du nicht, daß Gott größere Dinge gethan haben
könnte als die, welche Du in dem Buche gelesen hast?" Darauf gebot er ihm,
sich zu eiuer Entdeckungsfahrt nach jenen Wundern zu rüsten, die sieben Jahre
dauern werde. Der fromme Abt erschrak, gehorchte aber und bestieg nach
einiger Zeit mit einer Anzahl von Begleitern ein Fahrzeug, mit dem er den
Kurs „gegen die Sommersonnenwende" nahm. Mitten im Meere überfiel die
Reisenden eine Windstille, und die Geführten Brandans zagten. Der gottes-
fürchtige Abt aber befahl, die Ruder einzuziehen und es dem Herrn zu über¬
lassen, was er über seine Knechte verhängen wolle. Sein Vertrauen auf
Hilfe vou droben wurde belohnt: nach einer Fahrt von vierzig Tagen erschien
im Norden ein Eiland mit steilen Felswänden, über welche frische Wasserbäche



Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde von OskarPeschel. — Heraus¬
gegeben von I. Löwenberg- Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot, 1877.
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[0279] Heograpljische Sagen und Mythen, ii. In diesem Abschnitt betrachten wir nnter der Führung Peschel's zunächst eine Legende, die man als die Odyssee des mittelalterlichen Mönchthums bezeichnen kann, baun das Eldorado dieser Zeit und zum Schluß den Punkt in der Mitte der Welt, wo nach der Meinung arabischer Geographen der Teufel seinen Hof¬ halt hatte — wie man sieht, lauter ungewöhnlich interessante Themata des von uus in Ur. 27 angezeigten und warm empfohlenen Sammelwerkes.*) Die canarischen Inseln waren längst schon entdeckt und von Eurvpüeru bevölkert, Amerika war von Labrador bis zum Feuerlande bekannt, ja man hatte bereits die Welt umsegelt, als man noch immer an die vom Mittelalter allgemein angenommene Existenz eines Archipels (oder einer Insel) glaubte, die 60 Grad westlich vom Meridian der portugiesischen Küste mitten im Welt¬ meer liegen und zuerst von: heiligen Brandanus besucht worden sein sollte. Die Sage vou diesem seebefahrenden Mönche ist schon im elften Jahrhunderte aufgezeichnet worden und nicht nur allen Völkern West- und Mitteleuropas, sondern auch den Arabern bekannt gewesen. Ihr Inhalt aber ist im Wesent¬ lichen folgender: In Irland lebte gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts der Abt Braudauus. Derselbe las eines Tages in einem Buche von den drei Himmeln, den zwei Paradiesen, den nenn Fegefeueru und den Ungeheuern des Meeres, die Wälder auf ihrem Rücken trügen. Voll Zorn warf er das Buch ius Feuer. Da erschien ihm ein Engel und sprach: „Brandau, warum hast Du die Wahr¬ heit verbrannt? Weißt Du nicht, daß Gott größere Dinge gethan haben könnte als die, welche Du in dem Buche gelesen hast?" Darauf gebot er ihm, sich zu eiuer Entdeckungsfahrt nach jenen Wundern zu rüsten, die sieben Jahre dauern werde. Der fromme Abt erschrak, gehorchte aber und bestieg nach einiger Zeit mit einer Anzahl von Begleitern ein Fahrzeug, mit dem er den Kurs „gegen die Sommersonnenwende" nahm. Mitten im Meere überfiel die Reisenden eine Windstille, und die Geführten Brandans zagten. Der gottes- fürchtige Abt aber befahl, die Ruder einzuziehen und es dem Herrn zu über¬ lassen, was er über seine Knechte verhängen wolle. Sein Vertrauen auf Hilfe vou droben wurde belohnt: nach einer Fahrt von vierzig Tagen erschien im Norden ein Eiland mit steilen Felswänden, über welche frische Wasserbäche Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde von OskarPeschel. — Heraus¬ gegeben von I. Löwenberg- Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot, 1877.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/279>, abgerufen am 30.09.2024.