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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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gekehrten aber erzählten von furchtbaren Windstößen, die aus Geisterhöhlen
hervorbrachen, und von großen Feuern, die sie jenseits der Berge bei Nacht
wahrgenommen haben wollten. Der Viseomte de Santarem hat das
Land Gog und Magog schon auf Karten des neunten und zehnten Jahr¬
hunderts entdeckt. Eine der seltsamsten unter denselben ist die nach
Mcissudi entworfene, welche Lelewel in das Jahr 947 n. Chr. setzt. Die be¬
wohnte Erde ist hier in Gestalt eines Vogels dargestellt, welcher Schwanz und
Flügel ausbreitet, so daß der linke Fittich die Gestalt Europas, der rechte die
Asiens annimmt und die fächerartig ausgespannten Schwanzfedern den afrika¬
nischen Continent vertreten. Das Land Jadschndsch (Gog) befindet sich dort
im äußersten Nordosten von Europa. Ziemlich genau in die Mitte des zehnten
Jahrhunderts fallen die Reisen des größten arabischen Geographen, des
Scheichs Abu Jschak Jztachri, von dessen Karten uns einige erhalten sind.
Derselbe besuchte u. A. auch den Kaspi-See und fand dabei, daß dieses Wasser¬
becken nicht mit dem Ocean zusammenhängt. Gog und Magog aber erwähnt
er nur an einer einzigen Stelle, wo er sagt: "China grenzt im Osten und
Norden an den Ocean, im Süden an die Länder des Islam und an Indien,
im Westen aber, wenn wir Jadschndsch und Madschndsch und was hinter
ihnen bis zum Meer liegt, zu diesem Reiche rechnen, an den Ocean." Diese
Aeußerung dentet auf ein nördliches Grenzland des asiatischen Kontinents,
welches etwa da liegt, wo wir ans den heutigen Karten Kamtschatka finden.
Ganz an das äußerste Nordende werden die beiden gefährlichen Völkerschaften
von dem kairenischeu Astronomen Abul Hassan Ali Ihr Junis (f 1008) ver¬
wiesen, und zwar uuterscheidet dieser zwischen den Jadschndsch und den
Madschndsch in der Weise, daß er die ersteren um 2 Grad westlicher und
20 Grad südlicher wohnen läßt als die letzteren. Auch auf dem Erdkreis des
Edrisi, der aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts stammt, liegt das
Land der Madschudsch erheblich weiter nördlich als das der Jadschudsch.

Ob die Araber ihre Kenntnisse von diesen Völkern aus der Hand der
Franken empfangen haben, oder ob das Umgekehrte der Fall war, läßt sich
nicht sagen. Doch ist wahrscheinlich, daß das Abendland die Sage von den
Arabern entliehen hat. Dann aber muß es in hohem Grade überraschen, den
beiden Stämmen schon auf einer angelsächsischen Karte oder aus dem zehnten
Jahrhunderte zu begegnen und zwar auf einer Halbinsel, die sich zwischen
dem schwarzen Meere und dem nach Norden sich öffnenden Meerbusen be¬
findet, als welcher hier der Kaspi-See aufgefaßt ist. Alle andern mittelalter¬
lichen Kartenzeichner hielten die gefürchteten Horden dem Abendlande weiter
vom Leibe, sie schafften dieses lebendige Memento des jüngsten Gerichts so wen
nach Nordosien als möglich. "Je tiefer nach Asien hinein die Bekanntschaft und


gekehrten aber erzählten von furchtbaren Windstößen, die aus Geisterhöhlen
hervorbrachen, und von großen Feuern, die sie jenseits der Berge bei Nacht
wahrgenommen haben wollten. Der Viseomte de Santarem hat das
Land Gog und Magog schon auf Karten des neunten und zehnten Jahr¬
hunderts entdeckt. Eine der seltsamsten unter denselben ist die nach
Mcissudi entworfene, welche Lelewel in das Jahr 947 n. Chr. setzt. Die be¬
wohnte Erde ist hier in Gestalt eines Vogels dargestellt, welcher Schwanz und
Flügel ausbreitet, so daß der linke Fittich die Gestalt Europas, der rechte die
Asiens annimmt und die fächerartig ausgespannten Schwanzfedern den afrika¬
nischen Continent vertreten. Das Land Jadschndsch (Gog) befindet sich dort
im äußersten Nordosten von Europa. Ziemlich genau in die Mitte des zehnten
Jahrhunderts fallen die Reisen des größten arabischen Geographen, des
Scheichs Abu Jschak Jztachri, von dessen Karten uns einige erhalten sind.
Derselbe besuchte u. A. auch den Kaspi-See und fand dabei, daß dieses Wasser¬
becken nicht mit dem Ocean zusammenhängt. Gog und Magog aber erwähnt
er nur an einer einzigen Stelle, wo er sagt: „China grenzt im Osten und
Norden an den Ocean, im Süden an die Länder des Islam und an Indien,
im Westen aber, wenn wir Jadschndsch und Madschndsch und was hinter
ihnen bis zum Meer liegt, zu diesem Reiche rechnen, an den Ocean." Diese
Aeußerung dentet auf ein nördliches Grenzland des asiatischen Kontinents,
welches etwa da liegt, wo wir ans den heutigen Karten Kamtschatka finden.
Ganz an das äußerste Nordende werden die beiden gefährlichen Völkerschaften
von dem kairenischeu Astronomen Abul Hassan Ali Ihr Junis (f 1008) ver¬
wiesen, und zwar uuterscheidet dieser zwischen den Jadschndsch und den
Madschndsch in der Weise, daß er die ersteren um 2 Grad westlicher und
20 Grad südlicher wohnen läßt als die letzteren. Auch auf dem Erdkreis des
Edrisi, der aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts stammt, liegt das
Land der Madschudsch erheblich weiter nördlich als das der Jadschudsch.

Ob die Araber ihre Kenntnisse von diesen Völkern aus der Hand der
Franken empfangen haben, oder ob das Umgekehrte der Fall war, läßt sich
nicht sagen. Doch ist wahrscheinlich, daß das Abendland die Sage von den
Arabern entliehen hat. Dann aber muß es in hohem Grade überraschen, den
beiden Stämmen schon auf einer angelsächsischen Karte oder aus dem zehnten
Jahrhunderte zu begegnen und zwar auf einer Halbinsel, die sich zwischen
dem schwarzen Meere und dem nach Norden sich öffnenden Meerbusen be¬
findet, als welcher hier der Kaspi-See aufgefaßt ist. Alle andern mittelalter¬
lichen Kartenzeichner hielten die gefürchteten Horden dem Abendlande weiter
vom Leibe, sie schafften dieses lebendige Memento des jüngsten Gerichts so wen
nach Nordosien als möglich. „Je tiefer nach Asien hinein die Bekanntschaft und


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[0238] gekehrten aber erzählten von furchtbaren Windstößen, die aus Geisterhöhlen hervorbrachen, und von großen Feuern, die sie jenseits der Berge bei Nacht wahrgenommen haben wollten. Der Viseomte de Santarem hat das Land Gog und Magog schon auf Karten des neunten und zehnten Jahr¬ hunderts entdeckt. Eine der seltsamsten unter denselben ist die nach Mcissudi entworfene, welche Lelewel in das Jahr 947 n. Chr. setzt. Die be¬ wohnte Erde ist hier in Gestalt eines Vogels dargestellt, welcher Schwanz und Flügel ausbreitet, so daß der linke Fittich die Gestalt Europas, der rechte die Asiens annimmt und die fächerartig ausgespannten Schwanzfedern den afrika¬ nischen Continent vertreten. Das Land Jadschndsch (Gog) befindet sich dort im äußersten Nordosten von Europa. Ziemlich genau in die Mitte des zehnten Jahrhunderts fallen die Reisen des größten arabischen Geographen, des Scheichs Abu Jschak Jztachri, von dessen Karten uns einige erhalten sind. Derselbe besuchte u. A. auch den Kaspi-See und fand dabei, daß dieses Wasser¬ becken nicht mit dem Ocean zusammenhängt. Gog und Magog aber erwähnt er nur an einer einzigen Stelle, wo er sagt: „China grenzt im Osten und Norden an den Ocean, im Süden an die Länder des Islam und an Indien, im Westen aber, wenn wir Jadschndsch und Madschndsch und was hinter ihnen bis zum Meer liegt, zu diesem Reiche rechnen, an den Ocean." Diese Aeußerung dentet auf ein nördliches Grenzland des asiatischen Kontinents, welches etwa da liegt, wo wir ans den heutigen Karten Kamtschatka finden. Ganz an das äußerste Nordende werden die beiden gefährlichen Völkerschaften von dem kairenischeu Astronomen Abul Hassan Ali Ihr Junis (f 1008) ver¬ wiesen, und zwar uuterscheidet dieser zwischen den Jadschndsch und den Madschndsch in der Weise, daß er die ersteren um 2 Grad westlicher und 20 Grad südlicher wohnen läßt als die letzteren. Auch auf dem Erdkreis des Edrisi, der aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts stammt, liegt das Land der Madschudsch erheblich weiter nördlich als das der Jadschudsch. Ob die Araber ihre Kenntnisse von diesen Völkern aus der Hand der Franken empfangen haben, oder ob das Umgekehrte der Fall war, läßt sich nicht sagen. Doch ist wahrscheinlich, daß das Abendland die Sage von den Arabern entliehen hat. Dann aber muß es in hohem Grade überraschen, den beiden Stämmen schon auf einer angelsächsischen Karte oder aus dem zehnten Jahrhunderte zu begegnen und zwar auf einer Halbinsel, die sich zwischen dem schwarzen Meere und dem nach Norden sich öffnenden Meerbusen be¬ findet, als welcher hier der Kaspi-See aufgefaßt ist. Alle andern mittelalter¬ lichen Kartenzeichner hielten die gefürchteten Horden dem Abendlande weiter vom Leibe, sie schafften dieses lebendige Memento des jüngsten Gerichts so wen nach Nordosien als möglich. „Je tiefer nach Asien hinein die Bekanntschaft und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/238>, abgerufen am 28.09.2024.