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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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nach China hin ans den alten Karten viel leeren Raum gab. Marco Polo
fand auf dem Wege von Indien nach Arabien zwei Juseln, von deuen die
eine nur von Männern, die andere nur vou Weibern bewohnt war, und die
unter dein Episkopat von Sokotara standen. Auch Columbus glaubte, als er
sich zur Rückfahrt ucich der alten Welt anschickte, im caraibischen Archipel eine
nur von Weibern bewohnte Insel entdeckt zu haben. Seine Nachfolger, die
spanischen Conquistadoren stießen an verschiedenen Orten auf Weiberstaaten, und
der Reflex des alten Mythus haftet uoch heute an dem größten Flusse der
Welt, dem Amazonenstrome, dessen erster Befnhrer, der Kapitän Orellana, hier
Amazonen angetroffen haben wollte. Endlich wurden noch vor wenigen Jahr¬
zehnten von einem französischen Reisenden in der Nähe von Schnmla Amazonen
entdeckt. In dem Dorfe Madara sollte nach demselben eine selbständige Ge¬
meinde von etwa zweitausend Frauen und Mädchen bestehen -- eine Fabel,
die von pariser Journalen ganz ernsthaft berichtet wurde. "solchen Wider¬
stand," sagt Peschel hierzu, "vermag durch mehrere Jahrtausende den fort¬
geschrittneu Kenntnissen ein volksthümlicher und anziehender Irrthum zu leisten."

Das ganze Mittelalter hindurch wußte man von einem Lande, welches
den Stämmen Gog und Magog, die, nach dem Propheten Hesekiel um
jüngsten Tage als Verwüster der Welt mitwirken sollten, zum Aufenthalt diente.
Auch die arabische Phantasie hat sich damals viel mit diesen unheimlichen
Völkern, die bei ihr Jadschudsch und Madschudsch heißen, beschäftigt. Nach
dem Koran sind sie von der übrigen Menschheit durch eine vom jemenischen
Welteroberer Dnlkarnein erbaute Mauer von Eisen geschieden, die von den
Morgenländern in die Gegend von Derbend verlegt oder auch nördlich vom
kaspischen Meere gesucht wurde, welches man sich als mit dem' Ocean im
Nordosten in Verbindung stehend, also nicht als Landsee, sondern als tiefen
Golf vorstellte, obwohl schou Herodot, Aristoteles und Ptolemäos dessen wahre
Beschaffenheit gekannt hatten.

Schon um die Mitte des neunte,? Jahrhunderts wurde der Araber Sallam
Zur Erkundigung in Betreff der Völker Gog und Magog nach den Gegenden
nördlich von der Wolga und dem Kaspisee ausgesandt. Er kam mit einer
Menge von Fabeln zurück, die noch zu Edrisis Zeiten Geltung hatten. Gog
und Magog saßen nach ihm jenseits des Gebirgs Kokaja (vielleicht der Ural,
vielleicht auch das vulkanische Himmelsgebirge, Thianschan), das, unzugänglich
und mit Schnee bedeckt, jene Völker wie ein wohlthätiger Gürtel von der
übrigen Welt absperrte. Selten kam jemand über diese vom Eis starrenden
Alpen hinüber, und noch seltener kehrte jemand von drüben wieder zurück.
Entweder zerrissen wilde Thiere den Neugierigen, oder er wurde von den Gog
zum Gefangenen gemacht, die ihn in einen tiefen Fluß stürzten. Die Zurück-


nach China hin ans den alten Karten viel leeren Raum gab. Marco Polo
fand auf dem Wege von Indien nach Arabien zwei Juseln, von deuen die
eine nur von Männern, die andere nur vou Weibern bewohnt war, und die
unter dein Episkopat von Sokotara standen. Auch Columbus glaubte, als er
sich zur Rückfahrt ucich der alten Welt anschickte, im caraibischen Archipel eine
nur von Weibern bewohnte Insel entdeckt zu haben. Seine Nachfolger, die
spanischen Conquistadoren stießen an verschiedenen Orten auf Weiberstaaten, und
der Reflex des alten Mythus haftet uoch heute an dem größten Flusse der
Welt, dem Amazonenstrome, dessen erster Befnhrer, der Kapitän Orellana, hier
Amazonen angetroffen haben wollte. Endlich wurden noch vor wenigen Jahr¬
zehnten von einem französischen Reisenden in der Nähe von Schnmla Amazonen
entdeckt. In dem Dorfe Madara sollte nach demselben eine selbständige Ge¬
meinde von etwa zweitausend Frauen und Mädchen bestehen — eine Fabel,
die von pariser Journalen ganz ernsthaft berichtet wurde. „solchen Wider¬
stand," sagt Peschel hierzu, „vermag durch mehrere Jahrtausende den fort¬
geschrittneu Kenntnissen ein volksthümlicher und anziehender Irrthum zu leisten."

Das ganze Mittelalter hindurch wußte man von einem Lande, welches
den Stämmen Gog und Magog, die, nach dem Propheten Hesekiel um
jüngsten Tage als Verwüster der Welt mitwirken sollten, zum Aufenthalt diente.
Auch die arabische Phantasie hat sich damals viel mit diesen unheimlichen
Völkern, die bei ihr Jadschudsch und Madschudsch heißen, beschäftigt. Nach
dem Koran sind sie von der übrigen Menschheit durch eine vom jemenischen
Welteroberer Dnlkarnein erbaute Mauer von Eisen geschieden, die von den
Morgenländern in die Gegend von Derbend verlegt oder auch nördlich vom
kaspischen Meere gesucht wurde, welches man sich als mit dem' Ocean im
Nordosten in Verbindung stehend, also nicht als Landsee, sondern als tiefen
Golf vorstellte, obwohl schou Herodot, Aristoteles und Ptolemäos dessen wahre
Beschaffenheit gekannt hatten.

Schon um die Mitte des neunte,? Jahrhunderts wurde der Araber Sallam
Zur Erkundigung in Betreff der Völker Gog und Magog nach den Gegenden
nördlich von der Wolga und dem Kaspisee ausgesandt. Er kam mit einer
Menge von Fabeln zurück, die noch zu Edrisis Zeiten Geltung hatten. Gog
und Magog saßen nach ihm jenseits des Gebirgs Kokaja (vielleicht der Ural,
vielleicht auch das vulkanische Himmelsgebirge, Thianschan), das, unzugänglich
und mit Schnee bedeckt, jene Völker wie ein wohlthätiger Gürtel von der
übrigen Welt absperrte. Selten kam jemand über diese vom Eis starrenden
Alpen hinüber, und noch seltener kehrte jemand von drüben wieder zurück.
Entweder zerrissen wilde Thiere den Neugierigen, oder er wurde von den Gog
zum Gefangenen gemacht, die ihn in einen tiefen Fluß stürzten. Die Zurück-


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[0237] nach China hin ans den alten Karten viel leeren Raum gab. Marco Polo fand auf dem Wege von Indien nach Arabien zwei Juseln, von deuen die eine nur von Männern, die andere nur vou Weibern bewohnt war, und die unter dein Episkopat von Sokotara standen. Auch Columbus glaubte, als er sich zur Rückfahrt ucich der alten Welt anschickte, im caraibischen Archipel eine nur von Weibern bewohnte Insel entdeckt zu haben. Seine Nachfolger, die spanischen Conquistadoren stießen an verschiedenen Orten auf Weiberstaaten, und der Reflex des alten Mythus haftet uoch heute an dem größten Flusse der Welt, dem Amazonenstrome, dessen erster Befnhrer, der Kapitän Orellana, hier Amazonen angetroffen haben wollte. Endlich wurden noch vor wenigen Jahr¬ zehnten von einem französischen Reisenden in der Nähe von Schnmla Amazonen entdeckt. In dem Dorfe Madara sollte nach demselben eine selbständige Ge¬ meinde von etwa zweitausend Frauen und Mädchen bestehen — eine Fabel, die von pariser Journalen ganz ernsthaft berichtet wurde. „solchen Wider¬ stand," sagt Peschel hierzu, „vermag durch mehrere Jahrtausende den fort¬ geschrittneu Kenntnissen ein volksthümlicher und anziehender Irrthum zu leisten." Das ganze Mittelalter hindurch wußte man von einem Lande, welches den Stämmen Gog und Magog, die, nach dem Propheten Hesekiel um jüngsten Tage als Verwüster der Welt mitwirken sollten, zum Aufenthalt diente. Auch die arabische Phantasie hat sich damals viel mit diesen unheimlichen Völkern, die bei ihr Jadschudsch und Madschudsch heißen, beschäftigt. Nach dem Koran sind sie von der übrigen Menschheit durch eine vom jemenischen Welteroberer Dnlkarnein erbaute Mauer von Eisen geschieden, die von den Morgenländern in die Gegend von Derbend verlegt oder auch nördlich vom kaspischen Meere gesucht wurde, welches man sich als mit dem' Ocean im Nordosten in Verbindung stehend, also nicht als Landsee, sondern als tiefen Golf vorstellte, obwohl schou Herodot, Aristoteles und Ptolemäos dessen wahre Beschaffenheit gekannt hatten. Schon um die Mitte des neunte,? Jahrhunderts wurde der Araber Sallam Zur Erkundigung in Betreff der Völker Gog und Magog nach den Gegenden nördlich von der Wolga und dem Kaspisee ausgesandt. Er kam mit einer Menge von Fabeln zurück, die noch zu Edrisis Zeiten Geltung hatten. Gog und Magog saßen nach ihm jenseits des Gebirgs Kokaja (vielleicht der Ural, vielleicht auch das vulkanische Himmelsgebirge, Thianschan), das, unzugänglich und mit Schnee bedeckt, jene Völker wie ein wohlthätiger Gürtel von der übrigen Welt absperrte. Selten kam jemand über diese vom Eis starrenden Alpen hinüber, und noch seltener kehrte jemand von drüben wieder zurück. Entweder zerrissen wilde Thiere den Neugierigen, oder er wurde von den Gog zum Gefangenen gemacht, die ihn in einen tiefen Fluß stürzten. Die Zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/237>, abgerufen am 28.09.2024.