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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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von dem ersten Elternpaare abstammten, und ob sie Gutes und Böses unter¬
scheiden könnten. Die Kontroverse wurde noch delikater durch den Umstand,
daß aus dieser Nation der Märtyrer Cristoforus hervorgegangen war. Daß
hier von einem wirklichen Volke die Rede ist, bedarf kaum noch des Beweises,
und Wuttke erkennt so ohne Zwang in den nordischen Hundeköpfen einen
Stamm, der sich in Felle zu hüllen und die Schädelhaut der erlegten Bestie
sich über den Kopf zu ziehen Pflegte.

Andere Mißgestalten der mittelalterlichen Erdkunde waren die Fcinesier,
die Blemmyer und die Astomi, bei deren Beschreibung und geographischer Loka-
lisirung man sich gewöhnlich an Solinus hielt, der seinerseits die Naturge¬
schichte des Plinius ausgeschrieben hatte. Die Fanesier finden sich auf einer
Insel des kaspischen Meeres, und die Historie vom Herzog Ernst nennt sie
Nachbarn der Arimaspen und beschreibt sie als "ein unzierliches Volk mit
langen und großen Ohren, damit sie sich ganz bedecken." Die anonyme Ab¬
handlung "ve Non-ztris et Lelwis", die aus dem zehnten Jahrhundert stammt,
meldet von ihnen: "In den östlichen Ländern gibt es Menschen, die fünfzehn
s^uß Höhe erreichen sollen. Ihr Körper ist marmorweiß, und ihre Ohren
sind so breit, daß sie sich des Nachts hineinwickeln. Sobald sie einen Menschen
erblicken, suchen sie ihm mit gespitzten Ohren in die Wüste zu entfliehen." Die
Blemmyeu, Lemnien oder Aeephali, die von Strabo an die Ufer des Erythräi-
schen Meeres, von Plinius an die atlantische Küste Afrikas und von Andern
an die Quellen des Nil versetzt werden, gehörten zu den Lieblingen der mittel¬
alterlichen Kartenzeichner; denn diese Ungethüme besaßen .keinen Kopf und
hatten Augen und Mund auf der Brust. Eine Abbildung derselben befindet
sich noch auf eiuer Karte des berühmten Sammelwerks Dr. Bry's, welches
am Ende des sechzehnten Jahrhunderts erschien. Eine sentimentale Erfindung
waren die Astomi, Menschen ohne Mund, die am obern Ganges umherwan-
delten und sich, da sie keiner Nahrung bedurften, mit dem Geruch von Blumen,
Wurzeln und Obst begnügten. Entfernten sie sich weiter von ihrer Heimath,
so steckten sie einen wilden Apfel zu sich, um sich von seinem Dufte zu unsrer;
deun jeder stärkere Geruch hätte sie getödtet. Indien und das glückliche Aethio-
pien, wo es nach Plinius "von Wundern wimmelte", gebar endlich auch die
Lauglebenden, die ein Alter von 120 oder 200 Jahren erreichten, mit weißen
Haaren zur Welt kamen und erst später brünett wurden, sowie deren Gegen¬
theil, die auf Ceylon wohnenden Kurzlebenden, deren Weiber schon im fünften
Jahre gebaren und das achte nicht erlebten.

Kein Mythus aber hat sich so unverwüstlich bis tief in das Mittelalter
hinein erhalten, als der Glaube an einen Weiberstaat. Nach den meisten
Geographen befand sich derselbe im Osten des schwarzen Meeres, wo es bis


von dem ersten Elternpaare abstammten, und ob sie Gutes und Böses unter¬
scheiden könnten. Die Kontroverse wurde noch delikater durch den Umstand,
daß aus dieser Nation der Märtyrer Cristoforus hervorgegangen war. Daß
hier von einem wirklichen Volke die Rede ist, bedarf kaum noch des Beweises,
und Wuttke erkennt so ohne Zwang in den nordischen Hundeköpfen einen
Stamm, der sich in Felle zu hüllen und die Schädelhaut der erlegten Bestie
sich über den Kopf zu ziehen Pflegte.

Andere Mißgestalten der mittelalterlichen Erdkunde waren die Fcinesier,
die Blemmyer und die Astomi, bei deren Beschreibung und geographischer Loka-
lisirung man sich gewöhnlich an Solinus hielt, der seinerseits die Naturge¬
schichte des Plinius ausgeschrieben hatte. Die Fanesier finden sich auf einer
Insel des kaspischen Meeres, und die Historie vom Herzog Ernst nennt sie
Nachbarn der Arimaspen und beschreibt sie als „ein unzierliches Volk mit
langen und großen Ohren, damit sie sich ganz bedecken." Die anonyme Ab¬
handlung „ve Non-ztris et Lelwis", die aus dem zehnten Jahrhundert stammt,
meldet von ihnen: „In den östlichen Ländern gibt es Menschen, die fünfzehn
s^uß Höhe erreichen sollen. Ihr Körper ist marmorweiß, und ihre Ohren
sind so breit, daß sie sich des Nachts hineinwickeln. Sobald sie einen Menschen
erblicken, suchen sie ihm mit gespitzten Ohren in die Wüste zu entfliehen." Die
Blemmyeu, Lemnien oder Aeephali, die von Strabo an die Ufer des Erythräi-
schen Meeres, von Plinius an die atlantische Küste Afrikas und von Andern
an die Quellen des Nil versetzt werden, gehörten zu den Lieblingen der mittel¬
alterlichen Kartenzeichner; denn diese Ungethüme besaßen .keinen Kopf und
hatten Augen und Mund auf der Brust. Eine Abbildung derselben befindet
sich noch auf eiuer Karte des berühmten Sammelwerks Dr. Bry's, welches
am Ende des sechzehnten Jahrhunderts erschien. Eine sentimentale Erfindung
waren die Astomi, Menschen ohne Mund, die am obern Ganges umherwan-
delten und sich, da sie keiner Nahrung bedurften, mit dem Geruch von Blumen,
Wurzeln und Obst begnügten. Entfernten sie sich weiter von ihrer Heimath,
so steckten sie einen wilden Apfel zu sich, um sich von seinem Dufte zu unsrer;
deun jeder stärkere Geruch hätte sie getödtet. Indien und das glückliche Aethio-
pien, wo es nach Plinius „von Wundern wimmelte", gebar endlich auch die
Lauglebenden, die ein Alter von 120 oder 200 Jahren erreichten, mit weißen
Haaren zur Welt kamen und erst später brünett wurden, sowie deren Gegen¬
theil, die auf Ceylon wohnenden Kurzlebenden, deren Weiber schon im fünften
Jahre gebaren und das achte nicht erlebten.

Kein Mythus aber hat sich so unverwüstlich bis tief in das Mittelalter
hinein erhalten, als der Glaube an einen Weiberstaat. Nach den meisten
Geographen befand sich derselbe im Osten des schwarzen Meeres, wo es bis


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[0236] von dem ersten Elternpaare abstammten, und ob sie Gutes und Böses unter¬ scheiden könnten. Die Kontroverse wurde noch delikater durch den Umstand, daß aus dieser Nation der Märtyrer Cristoforus hervorgegangen war. Daß hier von einem wirklichen Volke die Rede ist, bedarf kaum noch des Beweises, und Wuttke erkennt so ohne Zwang in den nordischen Hundeköpfen einen Stamm, der sich in Felle zu hüllen und die Schädelhaut der erlegten Bestie sich über den Kopf zu ziehen Pflegte. Andere Mißgestalten der mittelalterlichen Erdkunde waren die Fcinesier, die Blemmyer und die Astomi, bei deren Beschreibung und geographischer Loka- lisirung man sich gewöhnlich an Solinus hielt, der seinerseits die Naturge¬ schichte des Plinius ausgeschrieben hatte. Die Fanesier finden sich auf einer Insel des kaspischen Meeres, und die Historie vom Herzog Ernst nennt sie Nachbarn der Arimaspen und beschreibt sie als „ein unzierliches Volk mit langen und großen Ohren, damit sie sich ganz bedecken." Die anonyme Ab¬ handlung „ve Non-ztris et Lelwis", die aus dem zehnten Jahrhundert stammt, meldet von ihnen: „In den östlichen Ländern gibt es Menschen, die fünfzehn s^uß Höhe erreichen sollen. Ihr Körper ist marmorweiß, und ihre Ohren sind so breit, daß sie sich des Nachts hineinwickeln. Sobald sie einen Menschen erblicken, suchen sie ihm mit gespitzten Ohren in die Wüste zu entfliehen." Die Blemmyeu, Lemnien oder Aeephali, die von Strabo an die Ufer des Erythräi- schen Meeres, von Plinius an die atlantische Küste Afrikas und von Andern an die Quellen des Nil versetzt werden, gehörten zu den Lieblingen der mittel¬ alterlichen Kartenzeichner; denn diese Ungethüme besaßen .keinen Kopf und hatten Augen und Mund auf der Brust. Eine Abbildung derselben befindet sich noch auf eiuer Karte des berühmten Sammelwerks Dr. Bry's, welches am Ende des sechzehnten Jahrhunderts erschien. Eine sentimentale Erfindung waren die Astomi, Menschen ohne Mund, die am obern Ganges umherwan- delten und sich, da sie keiner Nahrung bedurften, mit dem Geruch von Blumen, Wurzeln und Obst begnügten. Entfernten sie sich weiter von ihrer Heimath, so steckten sie einen wilden Apfel zu sich, um sich von seinem Dufte zu unsrer; deun jeder stärkere Geruch hätte sie getödtet. Indien und das glückliche Aethio- pien, wo es nach Plinius „von Wundern wimmelte", gebar endlich auch die Lauglebenden, die ein Alter von 120 oder 200 Jahren erreichten, mit weißen Haaren zur Welt kamen und erst später brünett wurden, sowie deren Gegen¬ theil, die auf Ceylon wohnenden Kurzlebenden, deren Weiber schon im fünften Jahre gebaren und das achte nicht erlebten. Kein Mythus aber hat sich so unverwüstlich bis tief in das Mittelalter hinein erhalten, als der Glaube an einen Weiberstaat. Nach den meisten Geographen befand sich derselbe im Osten des schwarzen Meeres, wo es bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/236>, abgerufen am 28.09.2024.