Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Infolge dessen herrschte über den Gewässern der hohen See völlige Dunkelheit,
welche die Inseln verhüllte. Anderswo stießen die kühnen Schiffer, die sich
von den Küsten hinweg gewagt hatten, auf ein Meer von Baumharz, in
welchem ihr Kiel nicht weiter konnte. Im Süden wölbte sich die Erde gegen
den Aequator hin, wodurch sie sich der Sonnensphäre so stark näherte, daß die
Strahlen derselben weit und breit alles organische Leben versengten. Und ver¬
muthete man auch jenseits dieses Gürtels tödtlicher Gluth menschenähnliche
Wesen, so erwartete man doch nicht, jemals von ihnen Nachricht zu erhalten.
Schon an den Grenzen jener Zone verlor die schaffende Natur die Fähigkeit,
Menschen nach dem Bilde Gottes zu erzeugen. Nur grausige oder läppische
Mißgestalten kamen hier zum Vorschein. Das galt namentlich vom tropischen
Afrika, welches an seinem Nordrande nichts als Mißgeschöpfe ausbrütete. "Es
ist gar nicht zu verwundern," sagt Plinius in seiner "Naturgeschichte," "daß
an seinen äußern Rändern abenteuerliche Menschen- und Thiergestalten erzeugt
werden, wenn wir an die künstlerische Kraft der Wärme denken, welche die
Formen der Körper und Bildwerke im Gusse hervorbringt." Das Mittel¬
alter aber hatte vor den Kreuzzügen wenig Gelegenheit, die Ueberlieferungen
des klassischen Alterthums zu prüfen, es nahm sie ehrerbietig als Wahrheiten
hin und verzehrte alle geistige Kraft mit Lösung der Aufgabe, sie mit den
Worten der Bibel in Einklang zu bringen. Der Glaube an Mißgeschöpfe im
tiefen Süden aber befestigte sich hauptsächlich durch die Kosmographen, die
auf ihren Karten diesen Ausgeburten der Phantasie ihre Stellen anwiesen und,
wo es der Raum gestattete, das Wunder durch Zeichnungen darstellten, wie
dies z. B. auf der catalanischen Karte und derjenigen der Kathedrale von
Hereford der Fall ist. Die Hauptquellen dieser geographischen Mythen waren
Aristeas von Prokonesos, Jsogonos aus Nicäa, Ktesias, Onesikritvs, Poly-
stephanos und Hegesias.

Zu den drolligsten Geschöpfen dieser Mythenwelt gehörten die Monskeli
oder Skiapoden, die nur ein Bein, daran aber einen Fuß von ungeheurer
Länge und Breite besaßen. In der Historie vom Herzog Ernst von Baiern
heißt es von ihnen: "Es sind solche Leute von Mohrenland, die man auf
lateinisch Seivpedes nennt, das heißt, daß sie nur einen Fuß haben, mit dem
sie sich (wie mit einem Schirm) bedecken vor der Sonne Glanz, und laufen
so rasch, daß sie niemand überholen kann, und dann, wenn sie auf das Meer
kommen, so laufen sie mit trocknen Füßen so behende, wie auf dem Kieß oder
harten Erdreich." Plinius versetzt sie unter die indischen Aethiopier, also in
das "unbekannte Land" der Alten am Aequator. Solinus weist ihnen das
Gangesthal als Aufenthaltsort an, und ihm folgen die Kartenzeichner des
Mittelalters. Um aber diese Käuze noch pikanter zu macheu, haben ihnen die


Grenzboten III. 1S77. M

Infolge dessen herrschte über den Gewässern der hohen See völlige Dunkelheit,
welche die Inseln verhüllte. Anderswo stießen die kühnen Schiffer, die sich
von den Küsten hinweg gewagt hatten, auf ein Meer von Baumharz, in
welchem ihr Kiel nicht weiter konnte. Im Süden wölbte sich die Erde gegen
den Aequator hin, wodurch sie sich der Sonnensphäre so stark näherte, daß die
Strahlen derselben weit und breit alles organische Leben versengten. Und ver¬
muthete man auch jenseits dieses Gürtels tödtlicher Gluth menschenähnliche
Wesen, so erwartete man doch nicht, jemals von ihnen Nachricht zu erhalten.
Schon an den Grenzen jener Zone verlor die schaffende Natur die Fähigkeit,
Menschen nach dem Bilde Gottes zu erzeugen. Nur grausige oder läppische
Mißgestalten kamen hier zum Vorschein. Das galt namentlich vom tropischen
Afrika, welches an seinem Nordrande nichts als Mißgeschöpfe ausbrütete. „Es
ist gar nicht zu verwundern," sagt Plinius in seiner „Naturgeschichte," „daß
an seinen äußern Rändern abenteuerliche Menschen- und Thiergestalten erzeugt
werden, wenn wir an die künstlerische Kraft der Wärme denken, welche die
Formen der Körper und Bildwerke im Gusse hervorbringt." Das Mittel¬
alter aber hatte vor den Kreuzzügen wenig Gelegenheit, die Ueberlieferungen
des klassischen Alterthums zu prüfen, es nahm sie ehrerbietig als Wahrheiten
hin und verzehrte alle geistige Kraft mit Lösung der Aufgabe, sie mit den
Worten der Bibel in Einklang zu bringen. Der Glaube an Mißgeschöpfe im
tiefen Süden aber befestigte sich hauptsächlich durch die Kosmographen, die
auf ihren Karten diesen Ausgeburten der Phantasie ihre Stellen anwiesen und,
wo es der Raum gestattete, das Wunder durch Zeichnungen darstellten, wie
dies z. B. auf der catalanischen Karte und derjenigen der Kathedrale von
Hereford der Fall ist. Die Hauptquellen dieser geographischen Mythen waren
Aristeas von Prokonesos, Jsogonos aus Nicäa, Ktesias, Onesikritvs, Poly-
stephanos und Hegesias.

Zu den drolligsten Geschöpfen dieser Mythenwelt gehörten die Monskeli
oder Skiapoden, die nur ein Bein, daran aber einen Fuß von ungeheurer
Länge und Breite besaßen. In der Historie vom Herzog Ernst von Baiern
heißt es von ihnen: „Es sind solche Leute von Mohrenland, die man auf
lateinisch Seivpedes nennt, das heißt, daß sie nur einen Fuß haben, mit dem
sie sich (wie mit einem Schirm) bedecken vor der Sonne Glanz, und laufen
so rasch, daß sie niemand überholen kann, und dann, wenn sie auf das Meer
kommen, so laufen sie mit trocknen Füßen so behende, wie auf dem Kieß oder
harten Erdreich." Plinius versetzt sie unter die indischen Aethiopier, also in
das „unbekannte Land" der Alten am Aequator. Solinus weist ihnen das
Gangesthal als Aufenthaltsort an, und ihm folgen die Kartenzeichner des
Mittelalters. Um aber diese Käuze noch pikanter zu macheu, haben ihnen die


Grenzboten III. 1S77. M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/138464"/>
          <p xml:id="ID_688" prev="#ID_687"> Infolge dessen herrschte über den Gewässern der hohen See völlige Dunkelheit,<lb/>
welche die Inseln verhüllte. Anderswo stießen die kühnen Schiffer, die sich<lb/>
von den Küsten hinweg gewagt hatten, auf ein Meer von Baumharz, in<lb/>
welchem ihr Kiel nicht weiter konnte. Im Süden wölbte sich die Erde gegen<lb/>
den Aequator hin, wodurch sie sich der Sonnensphäre so stark näherte, daß die<lb/>
Strahlen derselben weit und breit alles organische Leben versengten. Und ver¬<lb/>
muthete man auch jenseits dieses Gürtels tödtlicher Gluth menschenähnliche<lb/>
Wesen, so erwartete man doch nicht, jemals von ihnen Nachricht zu erhalten.<lb/>
Schon an den Grenzen jener Zone verlor die schaffende Natur die Fähigkeit,<lb/>
Menschen nach dem Bilde Gottes zu erzeugen. Nur grausige oder läppische<lb/>
Mißgestalten kamen hier zum Vorschein. Das galt namentlich vom tropischen<lb/>
Afrika, welches an seinem Nordrande nichts als Mißgeschöpfe ausbrütete. &#x201E;Es<lb/>
ist gar nicht zu verwundern," sagt Plinius in seiner &#x201E;Naturgeschichte," &#x201E;daß<lb/>
an seinen äußern Rändern abenteuerliche Menschen- und Thiergestalten erzeugt<lb/>
werden, wenn wir an die künstlerische Kraft der Wärme denken, welche die<lb/>
Formen der Körper und Bildwerke im Gusse hervorbringt." Das Mittel¬<lb/>
alter aber hatte vor den Kreuzzügen wenig Gelegenheit, die Ueberlieferungen<lb/>
des klassischen Alterthums zu prüfen, es nahm sie ehrerbietig als Wahrheiten<lb/>
hin und verzehrte alle geistige Kraft mit Lösung der Aufgabe, sie mit den<lb/>
Worten der Bibel in Einklang zu bringen. Der Glaube an Mißgeschöpfe im<lb/>
tiefen Süden aber befestigte sich hauptsächlich durch die Kosmographen, die<lb/>
auf ihren Karten diesen Ausgeburten der Phantasie ihre Stellen anwiesen und,<lb/>
wo es der Raum gestattete, das Wunder durch Zeichnungen darstellten, wie<lb/>
dies z. B. auf der catalanischen Karte und derjenigen der Kathedrale von<lb/>
Hereford der Fall ist. Die Hauptquellen dieser geographischen Mythen waren<lb/>
Aristeas von Prokonesos, Jsogonos aus Nicäa, Ktesias, Onesikritvs, Poly-<lb/>
stephanos und Hegesias.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_689" next="#ID_690"> Zu den drolligsten Geschöpfen dieser Mythenwelt gehörten die Monskeli<lb/>
oder Skiapoden, die nur ein Bein, daran aber einen Fuß von ungeheurer<lb/>
Länge und Breite besaßen. In der Historie vom Herzog Ernst von Baiern<lb/>
heißt es von ihnen: &#x201E;Es sind solche Leute von Mohrenland, die man auf<lb/>
lateinisch Seivpedes nennt, das heißt, daß sie nur einen Fuß haben, mit dem<lb/>
sie sich (wie mit einem Schirm) bedecken vor der Sonne Glanz, und laufen<lb/>
so rasch, daß sie niemand überholen kann, und dann, wenn sie auf das Meer<lb/>
kommen, so laufen sie mit trocknen Füßen so behende, wie auf dem Kieß oder<lb/>
harten Erdreich." Plinius versetzt sie unter die indischen Aethiopier, also in<lb/>
das &#x201E;unbekannte Land" der Alten am Aequator. Solinus weist ihnen das<lb/>
Gangesthal als Aufenthaltsort an, und ihm folgen die Kartenzeichner des<lb/>
Mittelalters. Um aber diese Käuze noch pikanter zu macheu, haben ihnen die</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1S77. M</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0233] Infolge dessen herrschte über den Gewässern der hohen See völlige Dunkelheit, welche die Inseln verhüllte. Anderswo stießen die kühnen Schiffer, die sich von den Küsten hinweg gewagt hatten, auf ein Meer von Baumharz, in welchem ihr Kiel nicht weiter konnte. Im Süden wölbte sich die Erde gegen den Aequator hin, wodurch sie sich der Sonnensphäre so stark näherte, daß die Strahlen derselben weit und breit alles organische Leben versengten. Und ver¬ muthete man auch jenseits dieses Gürtels tödtlicher Gluth menschenähnliche Wesen, so erwartete man doch nicht, jemals von ihnen Nachricht zu erhalten. Schon an den Grenzen jener Zone verlor die schaffende Natur die Fähigkeit, Menschen nach dem Bilde Gottes zu erzeugen. Nur grausige oder läppische Mißgestalten kamen hier zum Vorschein. Das galt namentlich vom tropischen Afrika, welches an seinem Nordrande nichts als Mißgeschöpfe ausbrütete. „Es ist gar nicht zu verwundern," sagt Plinius in seiner „Naturgeschichte," „daß an seinen äußern Rändern abenteuerliche Menschen- und Thiergestalten erzeugt werden, wenn wir an die künstlerische Kraft der Wärme denken, welche die Formen der Körper und Bildwerke im Gusse hervorbringt." Das Mittel¬ alter aber hatte vor den Kreuzzügen wenig Gelegenheit, die Ueberlieferungen des klassischen Alterthums zu prüfen, es nahm sie ehrerbietig als Wahrheiten hin und verzehrte alle geistige Kraft mit Lösung der Aufgabe, sie mit den Worten der Bibel in Einklang zu bringen. Der Glaube an Mißgeschöpfe im tiefen Süden aber befestigte sich hauptsächlich durch die Kosmographen, die auf ihren Karten diesen Ausgeburten der Phantasie ihre Stellen anwiesen und, wo es der Raum gestattete, das Wunder durch Zeichnungen darstellten, wie dies z. B. auf der catalanischen Karte und derjenigen der Kathedrale von Hereford der Fall ist. Die Hauptquellen dieser geographischen Mythen waren Aristeas von Prokonesos, Jsogonos aus Nicäa, Ktesias, Onesikritvs, Poly- stephanos und Hegesias. Zu den drolligsten Geschöpfen dieser Mythenwelt gehörten die Monskeli oder Skiapoden, die nur ein Bein, daran aber einen Fuß von ungeheurer Länge und Breite besaßen. In der Historie vom Herzog Ernst von Baiern heißt es von ihnen: „Es sind solche Leute von Mohrenland, die man auf lateinisch Seivpedes nennt, das heißt, daß sie nur einen Fuß haben, mit dem sie sich (wie mit einem Schirm) bedecken vor der Sonne Glanz, und laufen so rasch, daß sie niemand überholen kann, und dann, wenn sie auf das Meer kommen, so laufen sie mit trocknen Füßen so behende, wie auf dem Kieß oder harten Erdreich." Plinius versetzt sie unter die indischen Aethiopier, also in das „unbekannte Land" der Alten am Aequator. Solinus weist ihnen das Gangesthal als Aufenthaltsort an, und ihm folgen die Kartenzeichner des Mittelalters. Um aber diese Käuze noch pikanter zu macheu, haben ihnen die Grenzboten III. 1S77. M

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/233
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/233>, abgerufen am 28.09.2024.