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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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einige Kunde. Aber klar zu sehen in Betreff der Lage dieser Länder und
Inseln und die Verhältnisse ihrer Bewohner genau zu kennen, konnte man
nicht behaupten, und so blieb hier ein Feld voll Sagen, Mythen und andere
Phantasiegebilde bis in das Mittelalter hinein, wo zwar der Norden bis nach
Island hinauf und ebenso ein Theil des europäischen Ostens sich der Erdkunde
erschloß, der Westen, der tiefe Süden und ganz Ostasien sich wieder in Nebel
hüllten, der für das letztere sich erst mit den Eroberungen der Araber und mit
Marco Polos Reisen einigermaßen verzog, während die Südhälfte Afrikas und
die Welt westlich von diesem Erdtheil und Europa der Geographie bis zu
Ende dieser Periode gänzlich unbekannt blieben und nur in einer Anzahl von
Sagen und Mythen von seltsamen Inseln, Ländern und Menschen die Phantasie
beschäftigten, die wir nun großenteils in Auszügen aus dem neulich von uns
angezeigten Werke Peschel's*) betrachten wollen.

Das Thule des Pytheas war trotzdem, daß Strabo ihn der Lüge be¬
schuldigte, eine Wirklichkeit gewesen; wahrscheinlich hatte der massilische Nord¬
landsfahrer darunter die größte der Shetlandsinseln verstanden, doch kann er
mit dem Namen auch ein nördlicher gelegnes Eiland, selbst Island gemeint
haben. Allerdings erzählte er davon in theilweise dunkeln Ausdrücken einiges,
was dem Südländer unglaublich erscheinen mußte, und anderes, was auch uns
noch ein Räthsel ist. Es sollte dort im Sommer beständig Tag und im
Winter unaufhörlich Nacht fein. Die Menschen sollten dort nur von Hirse,
Kräutern, Früchten und Wurzeln leben. Weiter hinaus sei weder Land noch
Meer noch Luft im gewöhnlichen Sinne, sondern ein aus diesen drei Elementen
Gemischtes, das "einer Meerlunge (Qualle?) gliche, in welcher Land und
Meer und Alles mit einander zusammenschwebe, eine Art Land, das weder zu
Fuße noch zu Schiffe zugänglich sei." War das schon ein schwer zu be¬
greifendes Wunder, so wurde Thule im Mittelalter ganz zur Mythe. Es
rückte aus dem jetzt bekannten Norden in den Westen und die im dreizehnten
Jahrhundert verfaßte Schrift "Ins-M an Nonäs," die es Eile nennt, erzählt
von den Bewohnern einer Insel "weit draußen im Meer," die, wenn sie alt
und lebenssatt wären, sich, weil sie daheim nicht sterben könnten, nach Eile
bringen ließen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs
Monaten, habe.

Von jeder Erweiterung der Erdkunde über die europäischen Küsten des
atlantischen Meeres hinaus schreckten noch im späten Mittelalter wunderliche
Vorstellungen ab. Die Sonne hatte, wie man meinte, auf dem Oeean nicht
die Kraft, die aufsteigenden Nebel wie auf dem Festlande niederzuschlagen.



") Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde, Leipzig, 1877.

einige Kunde. Aber klar zu sehen in Betreff der Lage dieser Länder und
Inseln und die Verhältnisse ihrer Bewohner genau zu kennen, konnte man
nicht behaupten, und so blieb hier ein Feld voll Sagen, Mythen und andere
Phantasiegebilde bis in das Mittelalter hinein, wo zwar der Norden bis nach
Island hinauf und ebenso ein Theil des europäischen Ostens sich der Erdkunde
erschloß, der Westen, der tiefe Süden und ganz Ostasien sich wieder in Nebel
hüllten, der für das letztere sich erst mit den Eroberungen der Araber und mit
Marco Polos Reisen einigermaßen verzog, während die Südhälfte Afrikas und
die Welt westlich von diesem Erdtheil und Europa der Geographie bis zu
Ende dieser Periode gänzlich unbekannt blieben und nur in einer Anzahl von
Sagen und Mythen von seltsamen Inseln, Ländern und Menschen die Phantasie
beschäftigten, die wir nun großenteils in Auszügen aus dem neulich von uns
angezeigten Werke Peschel's*) betrachten wollen.

Das Thule des Pytheas war trotzdem, daß Strabo ihn der Lüge be¬
schuldigte, eine Wirklichkeit gewesen; wahrscheinlich hatte der massilische Nord¬
landsfahrer darunter die größte der Shetlandsinseln verstanden, doch kann er
mit dem Namen auch ein nördlicher gelegnes Eiland, selbst Island gemeint
haben. Allerdings erzählte er davon in theilweise dunkeln Ausdrücken einiges,
was dem Südländer unglaublich erscheinen mußte, und anderes, was auch uns
noch ein Räthsel ist. Es sollte dort im Sommer beständig Tag und im
Winter unaufhörlich Nacht fein. Die Menschen sollten dort nur von Hirse,
Kräutern, Früchten und Wurzeln leben. Weiter hinaus sei weder Land noch
Meer noch Luft im gewöhnlichen Sinne, sondern ein aus diesen drei Elementen
Gemischtes, das „einer Meerlunge (Qualle?) gliche, in welcher Land und
Meer und Alles mit einander zusammenschwebe, eine Art Land, das weder zu
Fuße noch zu Schiffe zugänglich sei." War das schon ein schwer zu be¬
greifendes Wunder, so wurde Thule im Mittelalter ganz zur Mythe. Es
rückte aus dem jetzt bekannten Norden in den Westen und die im dreizehnten
Jahrhundert verfaßte Schrift „Ins-M an Nonäs," die es Eile nennt, erzählt
von den Bewohnern einer Insel „weit draußen im Meer," die, wenn sie alt
und lebenssatt wären, sich, weil sie daheim nicht sterben könnten, nach Eile
bringen ließen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs
Monaten, habe.

Von jeder Erweiterung der Erdkunde über die europäischen Küsten des
atlantischen Meeres hinaus schreckten noch im späten Mittelalter wunderliche
Vorstellungen ab. Die Sonne hatte, wie man meinte, auf dem Oeean nicht
die Kraft, die aufsteigenden Nebel wie auf dem Festlande niederzuschlagen.



») Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde, Leipzig, 1877.
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[0232] einige Kunde. Aber klar zu sehen in Betreff der Lage dieser Länder und Inseln und die Verhältnisse ihrer Bewohner genau zu kennen, konnte man nicht behaupten, und so blieb hier ein Feld voll Sagen, Mythen und andere Phantasiegebilde bis in das Mittelalter hinein, wo zwar der Norden bis nach Island hinauf und ebenso ein Theil des europäischen Ostens sich der Erdkunde erschloß, der Westen, der tiefe Süden und ganz Ostasien sich wieder in Nebel hüllten, der für das letztere sich erst mit den Eroberungen der Araber und mit Marco Polos Reisen einigermaßen verzog, während die Südhälfte Afrikas und die Welt westlich von diesem Erdtheil und Europa der Geographie bis zu Ende dieser Periode gänzlich unbekannt blieben und nur in einer Anzahl von Sagen und Mythen von seltsamen Inseln, Ländern und Menschen die Phantasie beschäftigten, die wir nun großenteils in Auszügen aus dem neulich von uns angezeigten Werke Peschel's*) betrachten wollen. Das Thule des Pytheas war trotzdem, daß Strabo ihn der Lüge be¬ schuldigte, eine Wirklichkeit gewesen; wahrscheinlich hatte der massilische Nord¬ landsfahrer darunter die größte der Shetlandsinseln verstanden, doch kann er mit dem Namen auch ein nördlicher gelegnes Eiland, selbst Island gemeint haben. Allerdings erzählte er davon in theilweise dunkeln Ausdrücken einiges, was dem Südländer unglaublich erscheinen mußte, und anderes, was auch uns noch ein Räthsel ist. Es sollte dort im Sommer beständig Tag und im Winter unaufhörlich Nacht fein. Die Menschen sollten dort nur von Hirse, Kräutern, Früchten und Wurzeln leben. Weiter hinaus sei weder Land noch Meer noch Luft im gewöhnlichen Sinne, sondern ein aus diesen drei Elementen Gemischtes, das „einer Meerlunge (Qualle?) gliche, in welcher Land und Meer und Alles mit einander zusammenschwebe, eine Art Land, das weder zu Fuße noch zu Schiffe zugänglich sei." War das schon ein schwer zu be¬ greifendes Wunder, so wurde Thule im Mittelalter ganz zur Mythe. Es rückte aus dem jetzt bekannten Norden in den Westen und die im dreizehnten Jahrhundert verfaßte Schrift „Ins-M an Nonäs," die es Eile nennt, erzählt von den Bewohnern einer Insel „weit draußen im Meer," die, wenn sie alt und lebenssatt wären, sich, weil sie daheim nicht sterben könnten, nach Eile bringen ließen, wo das Jahr nur einen Tag und eine Nacht, jedes zu sechs Monaten, habe. Von jeder Erweiterung der Erdkunde über die europäischen Küsten des atlantischen Meeres hinaus schreckten noch im späten Mittelalter wunderliche Vorstellungen ab. Die Sonne hatte, wie man meinte, auf dem Oeean nicht die Kraft, die aufsteigenden Nebel wie auf dem Festlande niederzuschlagen. ») Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde, Leipzig, 1877.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/232>, abgerufen am 28.09.2024.