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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Von der verführerischen Tücke weiblicher Seedämonen, der schönen Jnselfee
Kirke, den mit Zaubergesängen berauschenden Sirenen. Wandernde Sänger
berichteten von einem Eilande eine Tagereise vom großen Aegyptosstrome, auf
welchem Proteus hauste, der alte Robbenhirt, der kündige Meergreis, ein
Orakelspender für den, welcher deu Schlauen, unablässig sich verwandelnden,
aalgleich aus eigner Gestalt in die eines Löwen, einer Schlange oder eines
Wasserquells entschlüpfenden zu fassen verstand. Am Rande der Erdscheibe
endlich, d. h. irgendwo in dem zweiten dunkleren Nebelring um den Kreis der
ältesten Geographie, den Meisten wohl im fernen Westen, streckte sich das
Dämmerland hin, wo die Seelen der Abgeschiedenen grau in grau ihr Schatteu-
leben führten.

Im Munde der Einen lokalisirten sich gelegentlich solche Mythengebilde
bis zu einem gewissen Grade, der Mehrzahl blieben sie, was sie von Anbeginn
gewesen, schwimmende Vorstellungen, deu Träumen gleich deutlich in den Einzel¬
heiten, aber ohne feste Stelle im Raume. Sie sollten im Osten, Westen oder
Norden sein, an welcher Stelle da, wußte Niemand.

Phönizische Kaufleute und Schiffsknpitäne werden sich bereits in dieser
Zeit bessere Kenntniß erworben haben. Aber was davon zu deu Heitere"
dieser Jahrhunderte gelangte, kam ihnen entweder schon aus dem Munde der
Erzähler als Fabel zu oder verwandelte sich im Verlauf der weiteren Ueber-
lieferung durch Mißverständniß oder unbewußte Umdichtung in ein Phantasie-
bild, und erst als die Periode der großen Auswanderungen begonnen hatte,
deren Ergebniß die griechischen Kolonien in Kleinasien und Süditalien waren,
wurde, zunächst von kretischen, phokäischen und faunischem Seefahrern, sodann
von zahlreichen andern der erste und bald auch der zweite jener Nebelringe
durchbrochen, von denen der Kreis des hellenischen Lebens bis dahin umgeben
gewesen war. Auf den Inseln, die man entdeckte, an den Festlandsgestaden,
in deren Föhrden man Anker warf, traf man oft Wilde, aber keine Riesen.
Die Meerthore, durch die man segelte, hatten böse Boer und gefahrdrohende
Klippen an ihrer Schwelle, aber keine zuschlagenden Felsenflügel. Im Sund
zwischen Sicilien und dem Absatz des italischen Stiefels lauerten unbequeme
Windstöße und ein schlimmer Strudel, aber das Gebell der Skylla war uicht
mehr zu hören, und auch die Charybdis war mit der Einsamkeit der Gegend
verschwunden. Aus dem Ostbecken des Mittelmeeres zogen sich die selige Insel
der Phüccken, die Meer- und Waldungethüme, die Nymphen und Zauberinnen
der Eilaudsgestade und alle Götter, Wunder und Gespenster der Seetiefe in
das westliche zurück. Kühne Abenteurer, Piraten oder Kaufleute, folgten thuen
auch dahin, und wieder räumte die Welt der Phantasie dem prosaischen Wissen
ein Stück Gebiet, bis sie endlich, über die fernen Balearen und^ Pithyusen


Von der verführerischen Tücke weiblicher Seedämonen, der schönen Jnselfee
Kirke, den mit Zaubergesängen berauschenden Sirenen. Wandernde Sänger
berichteten von einem Eilande eine Tagereise vom großen Aegyptosstrome, auf
welchem Proteus hauste, der alte Robbenhirt, der kündige Meergreis, ein
Orakelspender für den, welcher deu Schlauen, unablässig sich verwandelnden,
aalgleich aus eigner Gestalt in die eines Löwen, einer Schlange oder eines
Wasserquells entschlüpfenden zu fassen verstand. Am Rande der Erdscheibe
endlich, d. h. irgendwo in dem zweiten dunkleren Nebelring um den Kreis der
ältesten Geographie, den Meisten wohl im fernen Westen, streckte sich das
Dämmerland hin, wo die Seelen der Abgeschiedenen grau in grau ihr Schatteu-
leben führten.

Im Munde der Einen lokalisirten sich gelegentlich solche Mythengebilde
bis zu einem gewissen Grade, der Mehrzahl blieben sie, was sie von Anbeginn
gewesen, schwimmende Vorstellungen, deu Träumen gleich deutlich in den Einzel¬
heiten, aber ohne feste Stelle im Raume. Sie sollten im Osten, Westen oder
Norden sein, an welcher Stelle da, wußte Niemand.

Phönizische Kaufleute und Schiffsknpitäne werden sich bereits in dieser
Zeit bessere Kenntniß erworben haben. Aber was davon zu deu Heitere»
dieser Jahrhunderte gelangte, kam ihnen entweder schon aus dem Munde der
Erzähler als Fabel zu oder verwandelte sich im Verlauf der weiteren Ueber-
lieferung durch Mißverständniß oder unbewußte Umdichtung in ein Phantasie-
bild, und erst als die Periode der großen Auswanderungen begonnen hatte,
deren Ergebniß die griechischen Kolonien in Kleinasien und Süditalien waren,
wurde, zunächst von kretischen, phokäischen und faunischem Seefahrern, sodann
von zahlreichen andern der erste und bald auch der zweite jener Nebelringe
durchbrochen, von denen der Kreis des hellenischen Lebens bis dahin umgeben
gewesen war. Auf den Inseln, die man entdeckte, an den Festlandsgestaden,
in deren Föhrden man Anker warf, traf man oft Wilde, aber keine Riesen.
Die Meerthore, durch die man segelte, hatten böse Boer und gefahrdrohende
Klippen an ihrer Schwelle, aber keine zuschlagenden Felsenflügel. Im Sund
zwischen Sicilien und dem Absatz des italischen Stiefels lauerten unbequeme
Windstöße und ein schlimmer Strudel, aber das Gebell der Skylla war uicht
mehr zu hören, und auch die Charybdis war mit der Einsamkeit der Gegend
verschwunden. Aus dem Ostbecken des Mittelmeeres zogen sich die selige Insel
der Phüccken, die Meer- und Waldungethüme, die Nymphen und Zauberinnen
der Eilaudsgestade und alle Götter, Wunder und Gespenster der Seetiefe in
das westliche zurück. Kühne Abenteurer, Piraten oder Kaufleute, folgten thuen
auch dahin, und wieder räumte die Welt der Phantasie dem prosaischen Wissen
ein Stück Gebiet, bis sie endlich, über die fernen Balearen und^ Pithyusen


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[0230] Von der verführerischen Tücke weiblicher Seedämonen, der schönen Jnselfee Kirke, den mit Zaubergesängen berauschenden Sirenen. Wandernde Sänger berichteten von einem Eilande eine Tagereise vom großen Aegyptosstrome, auf welchem Proteus hauste, der alte Robbenhirt, der kündige Meergreis, ein Orakelspender für den, welcher deu Schlauen, unablässig sich verwandelnden, aalgleich aus eigner Gestalt in die eines Löwen, einer Schlange oder eines Wasserquells entschlüpfenden zu fassen verstand. Am Rande der Erdscheibe endlich, d. h. irgendwo in dem zweiten dunkleren Nebelring um den Kreis der ältesten Geographie, den Meisten wohl im fernen Westen, streckte sich das Dämmerland hin, wo die Seelen der Abgeschiedenen grau in grau ihr Schatteu- leben führten. Im Munde der Einen lokalisirten sich gelegentlich solche Mythengebilde bis zu einem gewissen Grade, der Mehrzahl blieben sie, was sie von Anbeginn gewesen, schwimmende Vorstellungen, deu Träumen gleich deutlich in den Einzel¬ heiten, aber ohne feste Stelle im Raume. Sie sollten im Osten, Westen oder Norden sein, an welcher Stelle da, wußte Niemand. Phönizische Kaufleute und Schiffsknpitäne werden sich bereits in dieser Zeit bessere Kenntniß erworben haben. Aber was davon zu deu Heitere» dieser Jahrhunderte gelangte, kam ihnen entweder schon aus dem Munde der Erzähler als Fabel zu oder verwandelte sich im Verlauf der weiteren Ueber- lieferung durch Mißverständniß oder unbewußte Umdichtung in ein Phantasie- bild, und erst als die Periode der großen Auswanderungen begonnen hatte, deren Ergebniß die griechischen Kolonien in Kleinasien und Süditalien waren, wurde, zunächst von kretischen, phokäischen und faunischem Seefahrern, sodann von zahlreichen andern der erste und bald auch der zweite jener Nebelringe durchbrochen, von denen der Kreis des hellenischen Lebens bis dahin umgeben gewesen war. Auf den Inseln, die man entdeckte, an den Festlandsgestaden, in deren Föhrden man Anker warf, traf man oft Wilde, aber keine Riesen. Die Meerthore, durch die man segelte, hatten böse Boer und gefahrdrohende Klippen an ihrer Schwelle, aber keine zuschlagenden Felsenflügel. Im Sund zwischen Sicilien und dem Absatz des italischen Stiefels lauerten unbequeme Windstöße und ein schlimmer Strudel, aber das Gebell der Skylla war uicht mehr zu hören, und auch die Charybdis war mit der Einsamkeit der Gegend verschwunden. Aus dem Ostbecken des Mittelmeeres zogen sich die selige Insel der Phüccken, die Meer- und Waldungethüme, die Nymphen und Zauberinnen der Eilaudsgestade und alle Götter, Wunder und Gespenster der Seetiefe in das westliche zurück. Kühne Abenteurer, Piraten oder Kaufleute, folgten thuen auch dahin, und wieder räumte die Welt der Phantasie dem prosaischen Wissen ein Stück Gebiet, bis sie endlich, über die fernen Balearen und^ Pithyusen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/230>, abgerufen am 21.10.2024.