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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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treiben, kann Portugal von diesem Schandflecken reinigen und wieder zu einer
achtbaren, unseres Jahrhunderts würdigen Nation machen.


H. Soyaux.


Heograpljische Sagen und Mythen,
i.

Zu den interessantesten Partien der Erdkunde gehört das Kapitel von
deren allmählicher Erweiterung. Noch im späten Mittelalter war der Kreis
des geographischen Wissens ein ziemlich beschränkter. In der Zeit der Rhapsoden
aber, aus deren Gesängen die Odyssee hervorging, war er nnr ein kleiner
sonniger Fleck, der wenig mehr als das ägäische Meer mit seinen Inseln
und Küsten umfaßte. Denselben umschloß ein in: Norden schmälerer, im Süden,
Osten und Westen breiterer Ring von halbhellen Gegenden, in denen einige ganz
lichte und sichere Punkte lagen, und um diesen wieder webte dichter, düsterer
Nebel, in welchem allerlei Seltsames und Ungeheures mit ungewissen Umrissen
und schwankender Lokalität, Zwielichtsbilder, halb gesehen und halb geträumt,
Anklänge, Ahnungen, Götter, Riesen und Gespenster schwebten und flutheten.

Man wollte von einem schroffen Felseneilande im Westen wissen, wo
König Aeolos, der Vater der Winde, mit seinen zwölf Kindern ein Schloß
bewohnte und, wenn nicht mit Erregung oder Beschwichtigung von Stürmen be¬
schäftigt, mit Schmausen bei rauschender Musik die Zeit verbrachte. Seemauns-
sagen gingen von einer andern westlichen Insel, auf welcher das gottentstammte
Volk der Phäaken in anmuthigen Gärten ein heiteres glanzvolles Dasein führte
und zu ihnen verschlagene nach gastlicher Bewirthung auf Wunderschiffen
ohne Steuer und Ruder in die Heimath zurückbrachte. Der sicilische Feuer¬
berg gebar das unheimliche Bild der Kyklopen, riesiger, rnßgeschwärzter
Schmiedegesellen, von deren Hammerschlägen die Erde bebte. Ans Urwäldern
über meernmbrcmdeten Klippen traten in das Bereich der Schiffermythe andere
Graungestalten, höhlenbewohnende Ungethüme, einäugige Ziegenhirten von un¬
geheurem Leibesbau, tiefer, weithin schallender Stimme und greuelvoller Neigung
Kur Menschenfresserei. Man erzählte von Meerengen mit zusammenklappenden
Felsen, durch welche kein Vogel, geschweige denn ein Fahrzeug unzerschmettert
hindnrchkam, von Strudeln, neben denen blntlüsterne Scheusale aus schwarzem
Ufergeklüft vielköpfig und langhälsig nach den Vorüberrudernden herausführe",


treiben, kann Portugal von diesem Schandflecken reinigen und wieder zu einer
achtbaren, unseres Jahrhunderts würdigen Nation machen.


H. Soyaux.


Heograpljische Sagen und Mythen,
i.

Zu den interessantesten Partien der Erdkunde gehört das Kapitel von
deren allmählicher Erweiterung. Noch im späten Mittelalter war der Kreis
des geographischen Wissens ein ziemlich beschränkter. In der Zeit der Rhapsoden
aber, aus deren Gesängen die Odyssee hervorging, war er nnr ein kleiner
sonniger Fleck, der wenig mehr als das ägäische Meer mit seinen Inseln
und Küsten umfaßte. Denselben umschloß ein in: Norden schmälerer, im Süden,
Osten und Westen breiterer Ring von halbhellen Gegenden, in denen einige ganz
lichte und sichere Punkte lagen, und um diesen wieder webte dichter, düsterer
Nebel, in welchem allerlei Seltsames und Ungeheures mit ungewissen Umrissen
und schwankender Lokalität, Zwielichtsbilder, halb gesehen und halb geträumt,
Anklänge, Ahnungen, Götter, Riesen und Gespenster schwebten und flutheten.

Man wollte von einem schroffen Felseneilande im Westen wissen, wo
König Aeolos, der Vater der Winde, mit seinen zwölf Kindern ein Schloß
bewohnte und, wenn nicht mit Erregung oder Beschwichtigung von Stürmen be¬
schäftigt, mit Schmausen bei rauschender Musik die Zeit verbrachte. Seemauns-
sagen gingen von einer andern westlichen Insel, auf welcher das gottentstammte
Volk der Phäaken in anmuthigen Gärten ein heiteres glanzvolles Dasein führte
und zu ihnen verschlagene nach gastlicher Bewirthung auf Wunderschiffen
ohne Steuer und Ruder in die Heimath zurückbrachte. Der sicilische Feuer¬
berg gebar das unheimliche Bild der Kyklopen, riesiger, rnßgeschwärzter
Schmiedegesellen, von deren Hammerschlägen die Erde bebte. Ans Urwäldern
über meernmbrcmdeten Klippen traten in das Bereich der Schiffermythe andere
Graungestalten, höhlenbewohnende Ungethüme, einäugige Ziegenhirten von un¬
geheurem Leibesbau, tiefer, weithin schallender Stimme und greuelvoller Neigung
Kur Menschenfresserei. Man erzählte von Meerengen mit zusammenklappenden
Felsen, durch welche kein Vogel, geschweige denn ein Fahrzeug unzerschmettert
hindnrchkam, von Strudeln, neben denen blntlüsterne Scheusale aus schwarzem
Ufergeklüft vielköpfig und langhälsig nach den Vorüberrudernden herausführe»,


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[0229] treiben, kann Portugal von diesem Schandflecken reinigen und wieder zu einer achtbaren, unseres Jahrhunderts würdigen Nation machen. H. Soyaux. Heograpljische Sagen und Mythen, i. Zu den interessantesten Partien der Erdkunde gehört das Kapitel von deren allmählicher Erweiterung. Noch im späten Mittelalter war der Kreis des geographischen Wissens ein ziemlich beschränkter. In der Zeit der Rhapsoden aber, aus deren Gesängen die Odyssee hervorging, war er nnr ein kleiner sonniger Fleck, der wenig mehr als das ägäische Meer mit seinen Inseln und Küsten umfaßte. Denselben umschloß ein in: Norden schmälerer, im Süden, Osten und Westen breiterer Ring von halbhellen Gegenden, in denen einige ganz lichte und sichere Punkte lagen, und um diesen wieder webte dichter, düsterer Nebel, in welchem allerlei Seltsames und Ungeheures mit ungewissen Umrissen und schwankender Lokalität, Zwielichtsbilder, halb gesehen und halb geträumt, Anklänge, Ahnungen, Götter, Riesen und Gespenster schwebten und flutheten. Man wollte von einem schroffen Felseneilande im Westen wissen, wo König Aeolos, der Vater der Winde, mit seinen zwölf Kindern ein Schloß bewohnte und, wenn nicht mit Erregung oder Beschwichtigung von Stürmen be¬ schäftigt, mit Schmausen bei rauschender Musik die Zeit verbrachte. Seemauns- sagen gingen von einer andern westlichen Insel, auf welcher das gottentstammte Volk der Phäaken in anmuthigen Gärten ein heiteres glanzvolles Dasein führte und zu ihnen verschlagene nach gastlicher Bewirthung auf Wunderschiffen ohne Steuer und Ruder in die Heimath zurückbrachte. Der sicilische Feuer¬ berg gebar das unheimliche Bild der Kyklopen, riesiger, rnßgeschwärzter Schmiedegesellen, von deren Hammerschlägen die Erde bebte. Ans Urwäldern über meernmbrcmdeten Klippen traten in das Bereich der Schiffermythe andere Graungestalten, höhlenbewohnende Ungethüme, einäugige Ziegenhirten von un¬ geheurem Leibesbau, tiefer, weithin schallender Stimme und greuelvoller Neigung Kur Menschenfresserei. Man erzählte von Meerengen mit zusammenklappenden Felsen, durch welche kein Vogel, geschweige denn ein Fahrzeug unzerschmettert hindnrchkam, von Strudeln, neben denen blntlüsterne Scheusale aus schwarzem Ufergeklüft vielköpfig und langhälsig nach den Vorüberrudernden herausführe»,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/229>, abgerufen am 28.09.2024.