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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Auch später setzten die meisten diese, "lustige" Weise fort. Neben andern kleinen
habituellen Schwächen besaßen sie in hohem Maße eine generelle Vorliebe für
geistige Getränke. Während sie prahlend ihre Künste rühmten, saßen sie Tag
und Nacht bei Wein und Bier und "füllten sich wie die Schweine." So be¬
rechtigt erschien dieser nationale Hang, daß begangene Fahrlässigkeiten einfach
durch Trunkenheit entschuldigt wurden. Immer von Neuem wird daher vor
diesem Laster gewarnt, und Würtz ist gutmüthig genug, seine Warnung mit
folgenden Worten zu begründen: "Wie soll ein voller Wundarzt eine Wunde be¬
schauen, wenn er Nichts oder Alles doppelt siehet."

Es kann nicht Wunder nehmen, daß unter solchen Verhältnissen der wund¬
ärztliche Stand kein angesehener war; was in aller Welt rechnete sich nicht
zu ihm! Die Spaltung der Arzneiwissenschaft war in Folge dessen eine so
schroffe, daß Medici und Chirurgen sich wie zwei feindliche Parteien gegen¬
über standen. Beschäftigte sich ein Medicus mit der Wundarznei, so beklagten
sich die Chirurgen, daß ihnen Unrecht geschehe. Andererseits wieder hielten
weitaus die meisten Medici die Ausübung der Wundarznei für ihrer nicht
würdig. Wohl aber wollten sie die Wundärzte beaufsichtigen und ihnen Vor¬
schriften geben. Am schlechtesten führen bei solcher Sachlage die Kranken und
die Wissenschaft. Viele der Besten erkannten übrigens beiderseits diese Uebel-
stände und versuchten, die zwischen Leib- und Wundärzten bestehende Kluft zu
überbrücken. Die Wundärzte mußten vor. allen Dingen durch wissenschaftliche
Tüchtigkeit und äußere Wohlanständigkeit das Ansehen des Standes und damit
die gesellschaftliche Stellung heben. Die Medici aber mußten verlernen, auf
die Wuudarznei dünkelhaft herab zu sehen und anfangen, sich mit ihr zu
beschäftigen.

Wie nun das ganze Streben einer Zeit nicht selten in einer hervorragenden
Persönlichkeit seine Verkörperung und gleichzeitig einen begeisterten Vorkämpfer
findet, so erging es auch der deutschen Wundarznei. Diese Persönlichkeit aber
ist Fabricius aus Hilden, ein Mann, dem an Ruhm feines Namens keiner
der großen Chirurgen unserer Tage verglichen werden kann. Nachstehende
Angaben, die ich aus seinen Briefen und Schriften zusanuneugesucht habe,
dürften um so willkommener sein, als Fabricius gewissermaßen das leuchtende
Urbild eines deutschen Wundarztes jener Zeit darstellt. Am 25. Juni 156U
zu Hilden, unweit Düsseldorf, geboren, finden wir ihn als 16 jährigen Knabe"
in der Lehre bei dem Wundarzt Düngers in Neuß. Nach Ablauf seiner Lehr¬
zeit ist er etwa von 1581 bis 1584 Schüler des von ihm hochgeachteten Cos¬
inus Stolanus, des Wundarztes des Herzogs von Jülich-Cleve-Berg in Düssel¬
dorf. Nach dem Tode des Meisters kehrt er in seine Vaterstadt zurück und
geht von da zu seiner weiteren Ausbildung nach Frankreich und der Schweiz.


Auch später setzten die meisten diese, „lustige" Weise fort. Neben andern kleinen
habituellen Schwächen besaßen sie in hohem Maße eine generelle Vorliebe für
geistige Getränke. Während sie prahlend ihre Künste rühmten, saßen sie Tag
und Nacht bei Wein und Bier und „füllten sich wie die Schweine." So be¬
rechtigt erschien dieser nationale Hang, daß begangene Fahrlässigkeiten einfach
durch Trunkenheit entschuldigt wurden. Immer von Neuem wird daher vor
diesem Laster gewarnt, und Würtz ist gutmüthig genug, seine Warnung mit
folgenden Worten zu begründen: „Wie soll ein voller Wundarzt eine Wunde be¬
schauen, wenn er Nichts oder Alles doppelt siehet."

Es kann nicht Wunder nehmen, daß unter solchen Verhältnissen der wund¬
ärztliche Stand kein angesehener war; was in aller Welt rechnete sich nicht
zu ihm! Die Spaltung der Arzneiwissenschaft war in Folge dessen eine so
schroffe, daß Medici und Chirurgen sich wie zwei feindliche Parteien gegen¬
über standen. Beschäftigte sich ein Medicus mit der Wundarznei, so beklagten
sich die Chirurgen, daß ihnen Unrecht geschehe. Andererseits wieder hielten
weitaus die meisten Medici die Ausübung der Wundarznei für ihrer nicht
würdig. Wohl aber wollten sie die Wundärzte beaufsichtigen und ihnen Vor¬
schriften geben. Am schlechtesten führen bei solcher Sachlage die Kranken und
die Wissenschaft. Viele der Besten erkannten übrigens beiderseits diese Uebel-
stände und versuchten, die zwischen Leib- und Wundärzten bestehende Kluft zu
überbrücken. Die Wundärzte mußten vor. allen Dingen durch wissenschaftliche
Tüchtigkeit und äußere Wohlanständigkeit das Ansehen des Standes und damit
die gesellschaftliche Stellung heben. Die Medici aber mußten verlernen, auf
die Wuudarznei dünkelhaft herab zu sehen und anfangen, sich mit ihr zu
beschäftigen.

Wie nun das ganze Streben einer Zeit nicht selten in einer hervorragenden
Persönlichkeit seine Verkörperung und gleichzeitig einen begeisterten Vorkämpfer
findet, so erging es auch der deutschen Wundarznei. Diese Persönlichkeit aber
ist Fabricius aus Hilden, ein Mann, dem an Ruhm feines Namens keiner
der großen Chirurgen unserer Tage verglichen werden kann. Nachstehende
Angaben, die ich aus seinen Briefen und Schriften zusanuneugesucht habe,
dürften um so willkommener sein, als Fabricius gewissermaßen das leuchtende
Urbild eines deutschen Wundarztes jener Zeit darstellt. Am 25. Juni 156U
zu Hilden, unweit Düsseldorf, geboren, finden wir ihn als 16 jährigen Knabe»
in der Lehre bei dem Wundarzt Düngers in Neuß. Nach Ablauf seiner Lehr¬
zeit ist er etwa von 1581 bis 1584 Schüler des von ihm hochgeachteten Cos¬
inus Stolanus, des Wundarztes des Herzogs von Jülich-Cleve-Berg in Düssel¬
dorf. Nach dem Tode des Meisters kehrt er in seine Vaterstadt zurück und
geht von da zu seiner weiteren Ausbildung nach Frankreich und der Schweiz.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/176>, abgerufen am 28.09.2024.