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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Massen beiderlei Geschlechts, welche den nicht operativen Theil der Chirurgie
in abergläubisch-mystischer Weise bearbeiteten. "Beneden den unerfahrenen Land¬
betrügern -- heißt es bei dem eben erwähnten Uffenlmch -- Henkersbuben
und andere Ihresgleichen, findet sich der andere, welcher Wunden und äußere
Schäden mit allerlei Segen, geweihtem Wasser 2c. zu heilen unterstehen in
solch unermeßlicher Zahl, daß ich fast so viel Zungen als Haar auf dem Kopfe
bedürfte, derselbigen Künste sämmtlich zu erzählen." Daß in einer Zeit, in
welcher der Aberglaube sich zu einer Großmacht ersten Ranges emporschwingt,
das Gebiet der Wuudarzuei nicht frei von mystischem Hnmbug bleibt, ist an
sich nichts Auffallendes. Die allgemeine Hilflosigkeit drängte die Meuschen ja
förmlich dazu, ihr Heil mit dem Ueberirdischen zu versuchen. In erster Reihe
bemühten sie sich, Blutungen dnrch Beschwörungsformeln und Zeichen zu be-
meistern, von denen ganze Sammlungen überliefert sind. Demnächst behandelten
sie Wunden und in den Körper gedrungene Fremdkörper. "Etliche sprechen, die
Beine, Fischgrät, oder was etwa im Hals ist stecken blieben, herauszubringen,
diese Wort: gleichwie Christus den Lcizarus von den Todten auferwecket und
aus dem Grabe herausgebracht, und gleichwie der große ungeheure Walfisch
den Jonam am dritten Tage wiederumb von sich ausspeiete, also gebiete Dn,
heiliger Blase, daß dieses Bein diesem guten Freund -- hiemit den Hals des
Patienten antastend -- ans dem Halse hinwegkommet und entweder über sich
heraussteige oder von unten hinab weiche." Schlimmer als dieses ist, daß die
wissenschaftliche Chirurgie selbst zur Kultusstätte des Aberglaubens wurde, daß
hochangesehene Wundärzte und kühne Operateure an diesem Affenspiele theil
nahmen und allerlei mystische Dinge zu integrirenden Bestandtheilen ihres
Arzneischatzes machten.

Einzelne Städte ausgenommen, übte in jener guten alten Zeit jeder, dem
es in den Sinn kam, Chirurgie praktisch aus: "leichtfertige Laudstrvtzer und
alte Wettermacherinnen treiben ihre Büberei und Vermessenheit nicht ohne
vieler Menschen Verderben und Untergang" -- ohne daß die hohe Obrigkeit
sich im Geringsten darum kümmerte. Ja, in vielen Orten werden solche Buben
und Schwarzkünstler von hochgestellten Personen erfahrenen Aerzten vorgezogen.
Fabricius wirst daher mit Recht Fürsten und Herren vor, daß sie die Arznei-
kunst mit Füßen treten und es zulassen, wie unerfahrene Leute um Leib und
Gut gebracht werden. Freilich konnte man vielen der Wundärzte nicht nach¬
sagen, daß sie ihr Leben allzu streng nach den Gesetzen der guten Sitte ein¬
richteten. Schon die angehenden Wundärzte gaben zu allerlei Klagen Anlaß:
anstatt sich der Anatomie zu befleißigen, brachten sie ihre Zeit zu mit Spielen
auf Instrumenten, lasen den Eulenspiegel und Amadis, waren dem Wein und
andern bösen Dingen ergeben und belustigten sich mit unnützen Handeln.


Massen beiderlei Geschlechts, welche den nicht operativen Theil der Chirurgie
in abergläubisch-mystischer Weise bearbeiteten. „Beneden den unerfahrenen Land¬
betrügern — heißt es bei dem eben erwähnten Uffenlmch — Henkersbuben
und andere Ihresgleichen, findet sich der andere, welcher Wunden und äußere
Schäden mit allerlei Segen, geweihtem Wasser 2c. zu heilen unterstehen in
solch unermeßlicher Zahl, daß ich fast so viel Zungen als Haar auf dem Kopfe
bedürfte, derselbigen Künste sämmtlich zu erzählen." Daß in einer Zeit, in
welcher der Aberglaube sich zu einer Großmacht ersten Ranges emporschwingt,
das Gebiet der Wuudarzuei nicht frei von mystischem Hnmbug bleibt, ist an
sich nichts Auffallendes. Die allgemeine Hilflosigkeit drängte die Meuschen ja
förmlich dazu, ihr Heil mit dem Ueberirdischen zu versuchen. In erster Reihe
bemühten sie sich, Blutungen dnrch Beschwörungsformeln und Zeichen zu be-
meistern, von denen ganze Sammlungen überliefert sind. Demnächst behandelten
sie Wunden und in den Körper gedrungene Fremdkörper. „Etliche sprechen, die
Beine, Fischgrät, oder was etwa im Hals ist stecken blieben, herauszubringen,
diese Wort: gleichwie Christus den Lcizarus von den Todten auferwecket und
aus dem Grabe herausgebracht, und gleichwie der große ungeheure Walfisch
den Jonam am dritten Tage wiederumb von sich ausspeiete, also gebiete Dn,
heiliger Blase, daß dieses Bein diesem guten Freund — hiemit den Hals des
Patienten antastend — ans dem Halse hinwegkommet und entweder über sich
heraussteige oder von unten hinab weiche." Schlimmer als dieses ist, daß die
wissenschaftliche Chirurgie selbst zur Kultusstätte des Aberglaubens wurde, daß
hochangesehene Wundärzte und kühne Operateure an diesem Affenspiele theil
nahmen und allerlei mystische Dinge zu integrirenden Bestandtheilen ihres
Arzneischatzes machten.

Einzelne Städte ausgenommen, übte in jener guten alten Zeit jeder, dem
es in den Sinn kam, Chirurgie praktisch aus: „leichtfertige Laudstrvtzer und
alte Wettermacherinnen treiben ihre Büberei und Vermessenheit nicht ohne
vieler Menschen Verderben und Untergang" — ohne daß die hohe Obrigkeit
sich im Geringsten darum kümmerte. Ja, in vielen Orten werden solche Buben
und Schwarzkünstler von hochgestellten Personen erfahrenen Aerzten vorgezogen.
Fabricius wirst daher mit Recht Fürsten und Herren vor, daß sie die Arznei-
kunst mit Füßen treten und es zulassen, wie unerfahrene Leute um Leib und
Gut gebracht werden. Freilich konnte man vielen der Wundärzte nicht nach¬
sagen, daß sie ihr Leben allzu streng nach den Gesetzen der guten Sitte ein¬
richteten. Schon die angehenden Wundärzte gaben zu allerlei Klagen Anlaß:
anstatt sich der Anatomie zu befleißigen, brachten sie ihre Zeit zu mit Spielen
auf Instrumenten, lasen den Eulenspiegel und Amadis, waren dem Wein und
andern bösen Dingen ergeben und belustigten sich mit unnützen Handeln.


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[0175] Massen beiderlei Geschlechts, welche den nicht operativen Theil der Chirurgie in abergläubisch-mystischer Weise bearbeiteten. „Beneden den unerfahrenen Land¬ betrügern — heißt es bei dem eben erwähnten Uffenlmch — Henkersbuben und andere Ihresgleichen, findet sich der andere, welcher Wunden und äußere Schäden mit allerlei Segen, geweihtem Wasser 2c. zu heilen unterstehen in solch unermeßlicher Zahl, daß ich fast so viel Zungen als Haar auf dem Kopfe bedürfte, derselbigen Künste sämmtlich zu erzählen." Daß in einer Zeit, in welcher der Aberglaube sich zu einer Großmacht ersten Ranges emporschwingt, das Gebiet der Wuudarzuei nicht frei von mystischem Hnmbug bleibt, ist an sich nichts Auffallendes. Die allgemeine Hilflosigkeit drängte die Meuschen ja förmlich dazu, ihr Heil mit dem Ueberirdischen zu versuchen. In erster Reihe bemühten sie sich, Blutungen dnrch Beschwörungsformeln und Zeichen zu be- meistern, von denen ganze Sammlungen überliefert sind. Demnächst behandelten sie Wunden und in den Körper gedrungene Fremdkörper. „Etliche sprechen, die Beine, Fischgrät, oder was etwa im Hals ist stecken blieben, herauszubringen, diese Wort: gleichwie Christus den Lcizarus von den Todten auferwecket und aus dem Grabe herausgebracht, und gleichwie der große ungeheure Walfisch den Jonam am dritten Tage wiederumb von sich ausspeiete, also gebiete Dn, heiliger Blase, daß dieses Bein diesem guten Freund — hiemit den Hals des Patienten antastend — ans dem Halse hinwegkommet und entweder über sich heraussteige oder von unten hinab weiche." Schlimmer als dieses ist, daß die wissenschaftliche Chirurgie selbst zur Kultusstätte des Aberglaubens wurde, daß hochangesehene Wundärzte und kühne Operateure an diesem Affenspiele theil nahmen und allerlei mystische Dinge zu integrirenden Bestandtheilen ihres Arzneischatzes machten. Einzelne Städte ausgenommen, übte in jener guten alten Zeit jeder, dem es in den Sinn kam, Chirurgie praktisch aus: „leichtfertige Laudstrvtzer und alte Wettermacherinnen treiben ihre Büberei und Vermessenheit nicht ohne vieler Menschen Verderben und Untergang" — ohne daß die hohe Obrigkeit sich im Geringsten darum kümmerte. Ja, in vielen Orten werden solche Buben und Schwarzkünstler von hochgestellten Personen erfahrenen Aerzten vorgezogen. Fabricius wirst daher mit Recht Fürsten und Herren vor, daß sie die Arznei- kunst mit Füßen treten und es zulassen, wie unerfahrene Leute um Leib und Gut gebracht werden. Freilich konnte man vielen der Wundärzte nicht nach¬ sagen, daß sie ihr Leben allzu streng nach den Gesetzen der guten Sitte ein¬ richteten. Schon die angehenden Wundärzte gaben zu allerlei Klagen Anlaß: anstatt sich der Anatomie zu befleißigen, brachten sie ihre Zeit zu mit Spielen auf Instrumenten, lasen den Eulenspiegel und Amadis, waren dem Wein und andern bösen Dingen ergeben und belustigten sich mit unnützen Handeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/175>, abgerufen am 28.09.2024.