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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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anatomischen oder chirurgischen Kenntnisse. llmM-lei, Versuchsärzte, hießen
Solche, die ohne vorhergegangenen Unterricht nnr die Erfahrung zu ihrer
Lehrmeisterin machten. Aufs Gerathewohl fingen sie die Praxis an "und Wenns
schon 100 Bauern kosten sollte, gilt ihnen eben gleich." Fabricius erzählt,
wie ein Steinschneider in Cöln auf bloße Vermuthung hin den Schnitt machte,
und als er keinen Stein in der Blase fand, ließ er geschwind einen solchen
ans dem Aermel in die Zange fallen. Die Umstehenden merkten den Betrug;
der Steinschneider wurde bestraft und ausgewiesen, um -- an einem anderen Orte
seine Thätigkeit fortzusetzen. Fabricius hatte die Exstirpation des Kropfes bei
einem 10jährigen Mädchen als zu gefährlich abgelehnt; ein Empiricus machte
sich sofort an die Operation, und das Mädchen starb unter dem Messer. Ein
deutscher Edelmann hatte an der Innenseite des Oberschenkels eine Geschwulst,
die ein Empiricus zu erstirpiren sich erbot. Bei dem Maugel anatomischer
Kenntnisse durchschnitt er alsbald die Schenkelarterie, lind der Kranke verblutete.
Bis zu welchem Grade die Gewissenlosigkeit reichte, zeigt die von Wierns mit¬
getheilte Erzählung: Ein Mönch, der wegen Ehebruchs harte Strafe fürchtete,
gab vor, an einem Bruche zu leiden. Ein Bruchschneider operirte, nachdem er
sich mit dem Prior über die Bezahlung geeinigt, den vorgeblichen Bruch in der
Weise, daß er beide tosws weg schnitt! Der Mönch aber war nunmehr in
der Lage seiue Unschuld darzuthun. Aehnlich sah es in der Geburtshilfe
ans, und wiederholt wird berichtet, daß statt der Nachgeburt der Uterus zu
Tage gefördert und amputirt wurde.

Thatsächlich treibt neben den eigentlichen Wundärzten eine große Schaar
gemeinschüdlicher Menschen offen und unbehelligt ganz nach Belieben chirurgische
Praxis. Bessere Wundärzte kennzeichnen dieses Unwesen und suchen dasselbe
in zeitgemäßer Ausdrucksweise zu bekämpfen. "Es ist die Verachtung der
Chirurgie so weit kommen, -- sagt Peter Uffenbnch -- daß auch die allerver-
rnchteste Person sich in dieselbige einschleichen, sintemalen fast kein Scharfrichter
auf den allergeringsten Märkten und Flecken gefunden wird, der sich derselbigen
nicht unterfängt." Johann von Muralt eifert gegen die Quacksalber, Bulleu-
doetvren, Spiegelschaner und Marktschreier, deren Reeipe ein Deeipe,


Deren Mrschrift und Recept
Voller Trug und Lügen klebt.

Wenngleich einzelne Nmpiriei in ihrem Fache eine nicht zu verachtende
Virtuosität erlangten -- Horstius bezeugt 1620, daß der Steinschneider von
Ulm an die 2000 Stein- resp. Bruchschnitte ausgeführt habe -- so richteten
sie doch im Allgemeinen das größte Unheil an. Gewöhnlich zogen sie von
einer Stadt zur andern, so daß sich immer wieder Gimpel fanden, die in ihre
Netze gingen. Außer diesen mittelalterlichen Specialisten gab es noch ganze


anatomischen oder chirurgischen Kenntnisse. llmM-lei, Versuchsärzte, hießen
Solche, die ohne vorhergegangenen Unterricht nnr die Erfahrung zu ihrer
Lehrmeisterin machten. Aufs Gerathewohl fingen sie die Praxis an „und Wenns
schon 100 Bauern kosten sollte, gilt ihnen eben gleich." Fabricius erzählt,
wie ein Steinschneider in Cöln auf bloße Vermuthung hin den Schnitt machte,
und als er keinen Stein in der Blase fand, ließ er geschwind einen solchen
ans dem Aermel in die Zange fallen. Die Umstehenden merkten den Betrug;
der Steinschneider wurde bestraft und ausgewiesen, um — an einem anderen Orte
seine Thätigkeit fortzusetzen. Fabricius hatte die Exstirpation des Kropfes bei
einem 10jährigen Mädchen als zu gefährlich abgelehnt; ein Empiricus machte
sich sofort an die Operation, und das Mädchen starb unter dem Messer. Ein
deutscher Edelmann hatte an der Innenseite des Oberschenkels eine Geschwulst,
die ein Empiricus zu erstirpiren sich erbot. Bei dem Maugel anatomischer
Kenntnisse durchschnitt er alsbald die Schenkelarterie, lind der Kranke verblutete.
Bis zu welchem Grade die Gewissenlosigkeit reichte, zeigt die von Wierns mit¬
getheilte Erzählung: Ein Mönch, der wegen Ehebruchs harte Strafe fürchtete,
gab vor, an einem Bruche zu leiden. Ein Bruchschneider operirte, nachdem er
sich mit dem Prior über die Bezahlung geeinigt, den vorgeblichen Bruch in der
Weise, daß er beide tosws weg schnitt! Der Mönch aber war nunmehr in
der Lage seiue Unschuld darzuthun. Aehnlich sah es in der Geburtshilfe
ans, und wiederholt wird berichtet, daß statt der Nachgeburt der Uterus zu
Tage gefördert und amputirt wurde.

Thatsächlich treibt neben den eigentlichen Wundärzten eine große Schaar
gemeinschüdlicher Menschen offen und unbehelligt ganz nach Belieben chirurgische
Praxis. Bessere Wundärzte kennzeichnen dieses Unwesen und suchen dasselbe
in zeitgemäßer Ausdrucksweise zu bekämpfen. „Es ist die Verachtung der
Chirurgie so weit kommen, — sagt Peter Uffenbnch — daß auch die allerver-
rnchteste Person sich in dieselbige einschleichen, sintemalen fast kein Scharfrichter
auf den allergeringsten Märkten und Flecken gefunden wird, der sich derselbigen
nicht unterfängt." Johann von Muralt eifert gegen die Quacksalber, Bulleu-
doetvren, Spiegelschaner und Marktschreier, deren Reeipe ein Deeipe,


Deren Mrschrift und Recept
Voller Trug und Lügen klebt.

Wenngleich einzelne Nmpiriei in ihrem Fache eine nicht zu verachtende
Virtuosität erlangten — Horstius bezeugt 1620, daß der Steinschneider von
Ulm an die 2000 Stein- resp. Bruchschnitte ausgeführt habe — so richteten
sie doch im Allgemeinen das größte Unheil an. Gewöhnlich zogen sie von
einer Stadt zur andern, so daß sich immer wieder Gimpel fanden, die in ihre
Netze gingen. Außer diesen mittelalterlichen Specialisten gab es noch ganze


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[0174] anatomischen oder chirurgischen Kenntnisse. llmM-lei, Versuchsärzte, hießen Solche, die ohne vorhergegangenen Unterricht nnr die Erfahrung zu ihrer Lehrmeisterin machten. Aufs Gerathewohl fingen sie die Praxis an „und Wenns schon 100 Bauern kosten sollte, gilt ihnen eben gleich." Fabricius erzählt, wie ein Steinschneider in Cöln auf bloße Vermuthung hin den Schnitt machte, und als er keinen Stein in der Blase fand, ließ er geschwind einen solchen ans dem Aermel in die Zange fallen. Die Umstehenden merkten den Betrug; der Steinschneider wurde bestraft und ausgewiesen, um — an einem anderen Orte seine Thätigkeit fortzusetzen. Fabricius hatte die Exstirpation des Kropfes bei einem 10jährigen Mädchen als zu gefährlich abgelehnt; ein Empiricus machte sich sofort an die Operation, und das Mädchen starb unter dem Messer. Ein deutscher Edelmann hatte an der Innenseite des Oberschenkels eine Geschwulst, die ein Empiricus zu erstirpiren sich erbot. Bei dem Maugel anatomischer Kenntnisse durchschnitt er alsbald die Schenkelarterie, lind der Kranke verblutete. Bis zu welchem Grade die Gewissenlosigkeit reichte, zeigt die von Wierns mit¬ getheilte Erzählung: Ein Mönch, der wegen Ehebruchs harte Strafe fürchtete, gab vor, an einem Bruche zu leiden. Ein Bruchschneider operirte, nachdem er sich mit dem Prior über die Bezahlung geeinigt, den vorgeblichen Bruch in der Weise, daß er beide tosws weg schnitt! Der Mönch aber war nunmehr in der Lage seiue Unschuld darzuthun. Aehnlich sah es in der Geburtshilfe ans, und wiederholt wird berichtet, daß statt der Nachgeburt der Uterus zu Tage gefördert und amputirt wurde. Thatsächlich treibt neben den eigentlichen Wundärzten eine große Schaar gemeinschüdlicher Menschen offen und unbehelligt ganz nach Belieben chirurgische Praxis. Bessere Wundärzte kennzeichnen dieses Unwesen und suchen dasselbe in zeitgemäßer Ausdrucksweise zu bekämpfen. „Es ist die Verachtung der Chirurgie so weit kommen, — sagt Peter Uffenbnch — daß auch die allerver- rnchteste Person sich in dieselbige einschleichen, sintemalen fast kein Scharfrichter auf den allergeringsten Märkten und Flecken gefunden wird, der sich derselbigen nicht unterfängt." Johann von Muralt eifert gegen die Quacksalber, Bulleu- doetvren, Spiegelschaner und Marktschreier, deren Reeipe ein Deeipe, Deren Mrschrift und Recept Voller Trug und Lügen klebt. Wenngleich einzelne Nmpiriei in ihrem Fache eine nicht zu verachtende Virtuosität erlangten — Horstius bezeugt 1620, daß der Steinschneider von Ulm an die 2000 Stein- resp. Bruchschnitte ausgeführt habe — so richteten sie doch im Allgemeinen das größte Unheil an. Gewöhnlich zogen sie von einer Stadt zur andern, so daß sich immer wieder Gimpel fanden, die in ihre Netze gingen. Außer diesen mittelalterlichen Specialisten gab es noch ganze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/174>, abgerufen am 28.09.2024.