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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Anderen veröffentlicht wurden. Eine besondere Art chirurgischer Lehrbücher
bilden die Lx-.rmirm edirui-gie",, welche, als Eselsbrücken in Form von Frage
und Antwort geschrieben, sich einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Vor den
Schriften des Paracelsus hütete man die jungen Wundärzte mit ängstlicher
Sorgfalt und gestattete ihr Studium nur denen, welche bereits einen guten
Kruud gelegt hatten und welche wie die Biene es verstanden, ans allen Blumen
nur das Süßeste heraus zu ziehen.

, Das typische Programm der chirurgischen Ausbildung umfaßte sonach
als Hauptkapitel: die Anatomie, die M,tsria, dürui-AiLs, und die Chirurgie, wozu
sich später die Geburtshilfe gesellt. Dieses Programm unterlag in Wirklichkeit
den weitgehendsten Schwankungen, denn für eine gleichmäßige Durchführung
desselben gab es im deutschen Reiche nur an wenigen Orten eine Gewähr.
Das Einfachste wäre ja gewesen, wenn jeder Wundarzt seine Befähigung zur
Praxis dnrch eine Prüfung nachgewiesen hätte. Aber diese Einrichtung fand
sich nur in wenigen Städten. So wurde in Cöln jeder Barbierer nach der
Lehrzeit in der Zunft geprüft; Fremde, welche als Brnchschneider oder Staar-
stecher vorübergehend ihre Kunst in der Stadt ausüben wollten, mußten sich
vor den Professoren der Mediein einem Examen unterwerfen. Diese theilten
das Ergebniß dem Rathe der Stadt mit, welcher, je nach dem, den Aufenthalt
gestattete oder nicht. Kunstfehler oder Nachlässigkeiten wurden von der Obrig¬
keit bestraft. In ähnlicher Weise sorgte die Stadt Zürich dafür "daß sich keine
ungelehrte, unerfahrene, unexcnninirte, höchstschädliche Winkelärzte einschlichen."
So nützlich diese Einrichtung hätte sein können, sank sie durch Indolenz der
Behörden herab zu einem ganz bestimmten, werthlosen Schematismus.
Industrielle Leute fertigten solche Meisterstücke (wie sie es nannten) an, welche
unter den Kandidaten willige Abnehmer fanden.

Das Schlimmste war, daß die Ausübung der wundärztlichen Praxis
keiner Kontrole unterworfen, daß der geprüfte, tüchtige Wundarzt dem Pfuscher
gegenüber völlig schütz- und rechtlos war. Fabricius kannte einen berühmten
Steinschneider, dessen Lebenslauf sich folgendermaßen gestaltet hatte: Zuerst
hütete derselbe bei einem Bauer in Burgund die Säue; nachdem er sich hier
im Schweineschneiden eine gewisse Geschicklichkeit erworben, machte er bei einem
seiner vontiAtrss auf dessen Wunsch den Bruchschnitt. Da diese Probe gut
ablief, so ging der bisherige Sauhüter als Bruchschueider in fremde Länder,
zog schöne Kleider an und hielt sich einen Diener. Vom Brnchschneider wurde
er bald ein Steinschneider und schließlich schnitt er Glieder ab und die todte
Frucht aus der Schwangeren Leib -- nie wurde er von der hohen Obrigkeit
belästigt. Mit unerhörter Leichtfertigkeit und jeder Scheu bar unternahmen
gewissenlose Marktschreier die gefährlichsten Operationen ohne die geringsten


Anderen veröffentlicht wurden. Eine besondere Art chirurgischer Lehrbücher
bilden die Lx-.rmirm edirui-gie»,, welche, als Eselsbrücken in Form von Frage
und Antwort geschrieben, sich einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Vor den
Schriften des Paracelsus hütete man die jungen Wundärzte mit ängstlicher
Sorgfalt und gestattete ihr Studium nur denen, welche bereits einen guten
Kruud gelegt hatten und welche wie die Biene es verstanden, ans allen Blumen
nur das Süßeste heraus zu ziehen.

, Das typische Programm der chirurgischen Ausbildung umfaßte sonach
als Hauptkapitel: die Anatomie, die M,tsria, dürui-AiLs, und die Chirurgie, wozu
sich später die Geburtshilfe gesellt. Dieses Programm unterlag in Wirklichkeit
den weitgehendsten Schwankungen, denn für eine gleichmäßige Durchführung
desselben gab es im deutschen Reiche nur an wenigen Orten eine Gewähr.
Das Einfachste wäre ja gewesen, wenn jeder Wundarzt seine Befähigung zur
Praxis dnrch eine Prüfung nachgewiesen hätte. Aber diese Einrichtung fand
sich nur in wenigen Städten. So wurde in Cöln jeder Barbierer nach der
Lehrzeit in der Zunft geprüft; Fremde, welche als Brnchschneider oder Staar-
stecher vorübergehend ihre Kunst in der Stadt ausüben wollten, mußten sich
vor den Professoren der Mediein einem Examen unterwerfen. Diese theilten
das Ergebniß dem Rathe der Stadt mit, welcher, je nach dem, den Aufenthalt
gestattete oder nicht. Kunstfehler oder Nachlässigkeiten wurden von der Obrig¬
keit bestraft. In ähnlicher Weise sorgte die Stadt Zürich dafür „daß sich keine
ungelehrte, unerfahrene, unexcnninirte, höchstschädliche Winkelärzte einschlichen."
So nützlich diese Einrichtung hätte sein können, sank sie durch Indolenz der
Behörden herab zu einem ganz bestimmten, werthlosen Schematismus.
Industrielle Leute fertigten solche Meisterstücke (wie sie es nannten) an, welche
unter den Kandidaten willige Abnehmer fanden.

Das Schlimmste war, daß die Ausübung der wundärztlichen Praxis
keiner Kontrole unterworfen, daß der geprüfte, tüchtige Wundarzt dem Pfuscher
gegenüber völlig schütz- und rechtlos war. Fabricius kannte einen berühmten
Steinschneider, dessen Lebenslauf sich folgendermaßen gestaltet hatte: Zuerst
hütete derselbe bei einem Bauer in Burgund die Säue; nachdem er sich hier
im Schweineschneiden eine gewisse Geschicklichkeit erworben, machte er bei einem
seiner vontiAtrss auf dessen Wunsch den Bruchschnitt. Da diese Probe gut
ablief, so ging der bisherige Sauhüter als Bruchschueider in fremde Länder,
zog schöne Kleider an und hielt sich einen Diener. Vom Brnchschneider wurde
er bald ein Steinschneider und schließlich schnitt er Glieder ab und die todte
Frucht aus der Schwangeren Leib — nie wurde er von der hohen Obrigkeit
belästigt. Mit unerhörter Leichtfertigkeit und jeder Scheu bar unternahmen
gewissenlose Marktschreier die gefährlichsten Operationen ohne die geringsten


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[0173] Anderen veröffentlicht wurden. Eine besondere Art chirurgischer Lehrbücher bilden die Lx-.rmirm edirui-gie»,, welche, als Eselsbrücken in Form von Frage und Antwort geschrieben, sich einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Vor den Schriften des Paracelsus hütete man die jungen Wundärzte mit ängstlicher Sorgfalt und gestattete ihr Studium nur denen, welche bereits einen guten Kruud gelegt hatten und welche wie die Biene es verstanden, ans allen Blumen nur das Süßeste heraus zu ziehen. , Das typische Programm der chirurgischen Ausbildung umfaßte sonach als Hauptkapitel: die Anatomie, die M,tsria, dürui-AiLs, und die Chirurgie, wozu sich später die Geburtshilfe gesellt. Dieses Programm unterlag in Wirklichkeit den weitgehendsten Schwankungen, denn für eine gleichmäßige Durchführung desselben gab es im deutschen Reiche nur an wenigen Orten eine Gewähr. Das Einfachste wäre ja gewesen, wenn jeder Wundarzt seine Befähigung zur Praxis dnrch eine Prüfung nachgewiesen hätte. Aber diese Einrichtung fand sich nur in wenigen Städten. So wurde in Cöln jeder Barbierer nach der Lehrzeit in der Zunft geprüft; Fremde, welche als Brnchschneider oder Staar- stecher vorübergehend ihre Kunst in der Stadt ausüben wollten, mußten sich vor den Professoren der Mediein einem Examen unterwerfen. Diese theilten das Ergebniß dem Rathe der Stadt mit, welcher, je nach dem, den Aufenthalt gestattete oder nicht. Kunstfehler oder Nachlässigkeiten wurden von der Obrig¬ keit bestraft. In ähnlicher Weise sorgte die Stadt Zürich dafür „daß sich keine ungelehrte, unerfahrene, unexcnninirte, höchstschädliche Winkelärzte einschlichen." So nützlich diese Einrichtung hätte sein können, sank sie durch Indolenz der Behörden herab zu einem ganz bestimmten, werthlosen Schematismus. Industrielle Leute fertigten solche Meisterstücke (wie sie es nannten) an, welche unter den Kandidaten willige Abnehmer fanden. Das Schlimmste war, daß die Ausübung der wundärztlichen Praxis keiner Kontrole unterworfen, daß der geprüfte, tüchtige Wundarzt dem Pfuscher gegenüber völlig schütz- und rechtlos war. Fabricius kannte einen berühmten Steinschneider, dessen Lebenslauf sich folgendermaßen gestaltet hatte: Zuerst hütete derselbe bei einem Bauer in Burgund die Säue; nachdem er sich hier im Schweineschneiden eine gewisse Geschicklichkeit erworben, machte er bei einem seiner vontiAtrss auf dessen Wunsch den Bruchschnitt. Da diese Probe gut ablief, so ging der bisherige Sauhüter als Bruchschueider in fremde Länder, zog schöne Kleider an und hielt sich einen Diener. Vom Brnchschneider wurde er bald ein Steinschneider und schließlich schnitt er Glieder ab und die todte Frucht aus der Schwangeren Leib — nie wurde er von der hohen Obrigkeit belästigt. Mit unerhörter Leichtfertigkeit und jeder Scheu bar unternahmen gewissenlose Marktschreier die gefährlichsten Operationen ohne die geringsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/173>, abgerufen am 28.09.2024.